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Der grasgrüne Kawa-Mann

Monoton brummt der Diesel, ich sitze neben dem jungen Mann auf dem Beifahrersitz. Seit 9 Monaten, 17 Tagen und 4 Stunden habe ich auf der Autobahn alle Zeit der Welt zum Schauen. Aus Lärmschutzgründen ist die Geschwindigkeit auf 100 km/h beschränkt, ich döse vor mich hin. Plötzlich zucke ich zusammen. Rechts neben mir taucht auf dem Beschleunigungsstreifen ein grüner Schatten auf, schießt vorbei und erweist dem Namen des Streifens seinen Respekt, um sich dann mit reduzierter Geschwindigkeit vor uns einzufädeln.
Eine 1000’er Kawasaki, auf der Ninja ein Typ im grasgrünen Lederkombi und einem gleichfarbigem Helm, er schwimmt jetzt auf der rechten Spur im Verkehr mit. Aufreizend exakt hält er sich an die vorgeschriebenen 100 Stundenkilometer, als kokettiere er mit unsichtbaren Cops. Und dann diese Körperhaltung! Fast aufrecht sitzt er, den Oberkörper leicht nach links gedreht. Das linke Knie annähernd rechtwinklig ausgestellt, die linke Hand auf dem Oberschenkel beiläufig abgelegt.
Die Aufhebung der Geschwindigkeitsbegrenzung kommt näher, nicht mehr lange bis zur Erlösung, bis zum Ende der Fastenzeit, bis zur Tonika-Auflösung einer ohrquälend schrägen Komposition, bis zum Sonnenaufgang nach einer schlaflosen, kalten Nacht. Jetzt noch 500 m bis zum Schild, das alle Fesseln sprengt. Die lockere Körperhaltung des Kawa-Mannes verändert sich. Eine elektrisierende Anspannung ist spürbar, die den ganzen grünen Körper mit seinem Gefährt packt. Die linke Hand greift jetzt ebenfalls den Lenker, das linke Knie schmiegt sich an die Maschine. Da ist das Schild, das es so nur in Deutschland gibt: Vollgas, soweit Verkehr und Witterung dies zulassen. Der Oberkörper richtet sich bis zur Überstreckung der Wirbelsäule auf. Blinker links. Er schwingt nach vorne, in der Vorwärtsbewegung ein kurzer Schulterblick, Mensch und Maschine verschmelzen. Der Schwung des Oberkörpers überträgt sich auf das willige Gefährt, schiebt es an und in die Schräglage. 998 Kubikzentimeter brüllen, 204 PS katapultieren das Motorrad nach vorne.
Meine rechte Hand dreht an einem imaginären Gasgriff. Ich schüttele fassungslos den Kopf.
Wie ein Fallschirmspringer im freien Fall schießt er quer durch die Autoreihen von der rechten über die mittlere auf die linke, ihm zustehende Spur. Das linke Knie, geschützt durch die eingearbeitete Metallplatte, ist kurz davor Funken zu schlagen. Rechtsschwenk, Geradeausfahrt, 13.500 Umdrehungen pro Minute, Maximalbeschleunigung. Die Autos weichen ehrfürchtig zur Seite und scheinen vergleichsweise zu stehen. Beim Schalten richtet sich der grasgrüne Kawa-Mann jeweils wenige Zentimeter auf, um dann weiter stromlinienförmig Richtung Süden zu fliegen.
Eine Schraubzwinge drückt mir auf den Brustkorb, nachdem ich dieser Opferung an den Gott der Geschwindigkeit beiwohnen musste. Ich kriege keine Luft, atme panisch und flach. „Mögest du selbst nie auf dem Altar der Geschwindigkeit geopfert werden“, bete ich leise.
Nach einer Stunde sind wir da. Mein Betreuer holt den Rollstuhl aus dem Kofferraum, öffnet die Beifahrertür und setzt mich um. Dann schiebt er mich in die Rehaklinik.
Spezialisiert auf Querschnittslähmungen. Seit 9 Monaten, 17 Tagen und 5 Stunden habe ich auf der Autobahn alle Zeit der Welt zum Schauen.

Text und Foto: Andreas Düll

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2 thoughts on “Der grasgrüne Kawa-Mann

  1. Tanja Krug

    Hallo Andreas, ich hatte gerade ein Deja Vue. In meinem Magen die Nerven oder die Vibrationen meiner Kawa? Das Brummen der Maschine, der Geruch nach Sprit, Leder und Sonne auf der Haut. Temperaturschwankungen direkt unmittelbar. Das kriegst Du in keinem Auto. Ich habe die Zeit unbeschadet überlebt. Glück gehabt. Danke für eine fast vergessene Erinnerung. Liebe Grüße Tanja

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