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Pizza statt Pasta

Eigentlich war David kein Schläger. Nur manchmal tickte er aus, aber dann war es egal, wer oder was ihm im Weg stand. Dabei war er mit seinen 12 Jahren kleiner als alle anderen Jungen seiner Klasse. Warum David, genannt Shorty, so klein war, wussten nicht einmal die Ärzte. Sie hatten es mit Wachstumshormonen versucht, ohne Erfolg. Wo seine Mutter war, wusste auch keiner. „Weggelaufen ist sie, als du ein Jahr warst!“ Der Vater, den David nur Jürgen nannte, hatte sie aus dem Leben der beiden ausradiert. Weder Fotos, Briefe oder Gegenstände erinnerten daran, dass David eine Mutter gehabt haben könnte. David hatte es schon lange aufgegeben, nach ihr zu fragen.
Als seine Frau weggelaufen war, fing auch Jürgen an zu laufen. Erst joggte er locker durch den Wald, dann trainierte er für einen Marathon. Inzwischen war er Triathlet, trainierte täglich, aß nur noch gesunde Sachen und lebte für ein Ziel. 9:59:59 Stunden!
„Wieso hängen bei euch überall Zettel mit diesen Zahlen rum?“ Erik kam vom Pinkeln, nahm den Controller und fläzte sich neben David vor die Playstation.
„Motivationspsychologie, würde mein Vater sagen. Er will den Iron Man in weniger als 10 Stunden schaffen.“
„Was muss man beim Iron Man machen?“
„3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42,2 Kilometer Laufen.“ David konnte die Zahlen auswendig runterbeten.
Erik starrte ihn mit offenem Mund an. „Krass, und das in weniger als 10 Stunden! Nur mit Muskelkraft!“
„Bescheuert, wenn du mich fragst. Dabei hat ein gewisser Herr Otto vor mehr als 150 Jahren den Verbrennungsmotor erfunden!“
„Und wann will dein Vater die 10 Stunden knacken?“
„Zweites Juliwochenende in Frankfurt. Ausgerechnet wenn wir die Clubmeisterschaft mit den Modellhelis fliegen.“
„Wieso, musst du mit nach Frankfurt?“
„Ja Mann, mein alter Herr lässt mich nicht alleine zu Hause. Er fährt schon am Samstag nach Frankfurt, weil der Iron Man elendig früh am Sonntag startet.“
„Verdammt, dieses Jahr könntest du Clubmeister werden!“
„Du kennst doch Jürgen! Den interessieren nur seine beschissenen zehn Stunden!“

„Der längste Tag des Jahres“ las David drei Wochen später auf den Plakaten in Frankfurt. Das glaub’ ich euch gerne, dachte er. Nichts ist langweiliger, als 10 Stunden auf die Ankunft von völlig verschwitzten und kaputten Eisenmännern zu warten. Wehmütig hielt er seinen Modellhubschrauber in den Händen. Heute hätte er Clubmeister werden können. Obwohl er der Jüngste war, flog keiner so spektakulär wie er. Täglich war David auf dem Flugplatz. Er konnte die Rollen, Loopings und ruckartigen Flugfiguren blind fliegen. Wenn er an die Clubmeisterschaft dachte, spürte er wieder Jürgens Hand in seinem Gesicht. Eine schallende Ohrfeige war am Morgen die Antwort auf die Frage gewesen, ob er wieder nach Hause fahren kann. David, genannt Shorty, stand kurz vor dem Ausbruch.
Er saß mit seiner Fernsteuerung auf einem Baum, den Zieleinlauf in Sichtweite. Das von einem Gebläse in Form gehaltene Gummitor erinnerte an die Hüpfburg eines Kinderfestes. Eine riesige Digitaluhr neben dem Gummitor zählte die Stunden, Minuten und Sekunden der Schinderei der Eisenmänner und von Davids Warterei. Die Uhr zeigte 9 Stunden, 53 Minuten und 17 Sekunden. David startete den Motor des Hubschraubers, der unter ihm auf dem Boden stand. Sanft hob der Heli ab. David steuerte ihn über den Zielbereich, ließ ihn kreisen und auf dem Gummitor landen. Von dort zog er ihn ruckartig hoch, ließ ihn über der Zuschauermenge trudeln und stabilisierte den Flug im letzten Moment. Zum ersten Mal lächelte er an diesem Tage.

9:55:03 Stunden. David steuerte den Heli über den Zieleinlauf und kippte ihn auf den Kopf. Wie Schwerter hackten die scharfen Rotorblätter immer wieder auf das Gummi ein, mit wutverzerrtem Gesicht fing David den Heli ab, brachte ihn unter Kontrolle und startete die nächste Attacke. 9:56:35 Stunden. Kohle- und Kevlarfasern siegten über Gummi, der Zieleinlauf ging zischend in die Knie. Hektische Offizielle mit wichtigen Ausweisen um den Hals und Polizisten versuchten den Piloten des Hubschraubers zu orten, David blieb für sie aber im Geäst verborgen.
9:57:43 Stunden. David entdeckte Jürgen auf der Zielgraden.
Wie den Falken auf eine Maus ließ er den Heli auf Jürgen stürzen. Am Ende seiner Kräfte, versuchte sein Vater den Angriff abzuwehren, geriet dabei aber ins Taumeln. Doch plötzlich ließ der Hubschrauber von seiner Beute ab und wendete. David atmete tief durch. Der Heli flog mit Höchstgeschwindigkeit auf die Zeitanzeige zu. Er schlug ein, die Scheibe der Uhr zersplitterte. Der Hubschrauber krachte in Trümmern auf den Boden, die Uhr hinter der zerborstenen Scheibe lief weiter. 9.59.32 Stunden.
Jürgen stand schwer atmend vor dem zusammengesackten Zieleinlauf. Auf wackeligen Beinen hob er die Helitrümmer auf und sah sich suchend um. David kletterte vom Baum, schmiss die Fernsteuerung weg und boxte sich den Weg frei durch die Menschenmassen. Jetzt standen sie sich gegenüber. Der verschwitzte, nach Luft schnappende Vater mit dem Hubschrauberschrott in den Händen, der Sohn mit dem Schatten eines Handabdrucks im Gesicht.
Die Uhr zeigte 10 Stunden und 25 Sekunden.
„Lass uns ’ne Pizza essen gehen“, presste Jürgen hervor.

Text: Andreas Düll

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4 thoughts on “Pizza statt Pasta

  1. Birgit Nakamhela

    Guten Tag, mir gefällt ihre Geschichte sehr ( Pizza statt Pasta)doll und ich werde viel mehr von ihren Geschichten lesen.
    LB Sydney von Namibia

    1. Andreas Düll

      Hallo, das freut mich, dass Ihnen „Pizza statt Pasta“ gut gefallen hat, danke für die Rückmeldung. Viel Spaß beim weiteren Lesen, viele Grüße
      Andreas Düll

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