Close

Schule vs. Fußball

Eigentlich gehe ich nur zum Fußball. Mehr brauche ich nicht. Ich bin bei jedem Spiel von meinem Team dabei. Auch auswärts, klar. Seit Kurzem habe ich eine neue Freundin. Die geht nicht zum Fußball, sondern immer noch in die Schule.
Wieso machst du das?, frage ich.
Ich arbeite dort, sagt sie und lacht. Komm doch mal mit in meine Schule.
Wenn du mit zum Fußball kommst, sage ich.
(Was man nicht alles macht, wenn man eine neue Freundin hat.)
Geht klar, sie klimpert mit den Augen. Gleich morgen?
Mein Team spielt erst am Samstag, also warum nicht.
7:45 Uhr am nächsten Morgen: Stau vor der Grundschule wie bei einem Heimspiel gegen die Bayern. Mit meinem Fahrrad muss ich Slalom fahren. Es sind nicht nur von Helikopterpilotinnen gesteuerte SUV, die den Bürgersteig vor der Schule zuparken und die Straße verstopfen. Es sind auch Kleinwagen von Großeltern, Großwagen von Kleinfamilien, Mittelklasseautos von Mittelklassefamilien und Elektroautos, die heimtückisch leise heranrollen: Die heutige Spielergeneration lässt sich gerne ins Training fahren!
Ohne Sicherheitskontrollen geht es ins Stadion, meine Freundin nimmt mich strahlend in Empfang. Wir betreten die nach Kaffee riechende Umkleide der Lehrerinnen und Lehrer. Den Postern an der Wand nach sind die hier aber nicht Fans der SGE, sondern von der GEW. Keine Ahnung, in welcher Liga die kicken.
Magst du einen Kaffee, fragt meine Freundin. Ich nicke und setze mich an den großen Tisch in der Kabinenmitte. Neben dem Kopierer hat jede Spielerin und jeder Spieler einen kleinen, abschließbaren Spind, darunter jeweils ein offenes Fach. Es läuft scheinbar der teaminterne Wettkampf, wer dieses Fach am effektivsten vollstopfen kann. Das ist mein Platz, grätscht mich eine ältere Dame verbal von hinten ab. Beladen mit zwei großen Taschen und einer Thermoskanne baut sie sich vor mir auf. Mindestens drei Viertel der Stühle sind noch frei, aber sie will ausgerechnet meinen. Sitze ich vielleicht im falschen Block? Meine Freundin kommt mit zwei Pötten Kaffee und einem Stapel Arbeitsblätter zurück. Sie stellt mich der Dame als potenziellen Quereinsteiger vor, der hospitiert und zwinkert mir dabei zu. Ich schaue überrascht, aber die eben noch strenge Miene der Lady verwandelt sich in ein Lächeln. Meine Freundin schiebt mich aus der Umkleide. Dabei erklärt sie mir die Spielregeln. Erstens: Setze dich nie auf die falschen Stühle. Zweitens: Trinke nie ohne zu fragen aus privaten Kaffeetassen. Und drittens: Das war die Chefin.
Wir laufen durch einen langen Kabinengang. Selbstgemalte Bilder hängen an der Backsteinwand. In einer Vitrine stehen ausgestopfte Tiere. Ob das ehemalige Maskottchen sind, die keinen Erfolg gebracht haben? Hinter der nächsten Glastür werden Pokale ausgestellt, das sieht nach ruhmreicher Vereinsgeschichte aus. Meine Freundin schließt eine Tür auf und strahlt: Meine Klasse! Ein Klingelton geht mir durch Mark und Bein, ich verschütte Kaffee auf den grünen Linoleumboden. Ist das die Alarmanlage, frage ich. Sie schüttelt den Kopf: Anpfiff, würdest du sagen.

Die Spielerinnen und Spieler betreten den Rasen. In den nächsten drei Minuten hört meine Freundin Berichte über einen Wackelzahn, den Geburtstag der Oma, den Tod eines Zwergkaninchens, einen Hallenbadbesuch und klebt zwei Pflaster. Dann sitzen alle. Guten Morgen, liebe 2c!, sagt meine Freundin.
Guten Morgen, Frau Becker und Herr…, der langgezogen geleierte Singsang verebbt unter ratlosen Blicken.
Wer bist du?, fragt mich der Wackelzahn.
Die Kinder fangen an zu flüstern, diskutieren dann immer lauter, ob ich der Zahnarzt, der neue Hausmeister oder ein Außerirdischer bin.
Meine Freundin steht auf, hebt die Hand, presst die ausgestreckten Ring- und Mittelfinger gegen den Daumen und spreizt den kleinen und den Zeigefinger wie die Fühler einer Schnecke nach oben. Alle Kinder hören auf zu reden und machen dieses Zeichen. Ich verstehe, forme die Finger meiner Hände ebenfalls zur Pommesgabel, starte mit dem Headbanging und brülle begeistert: Rock’n Roll!!!
Meine Freundin legt mir die Hand auf die Schulter und erklärt: Das war der Stillefuchs, nicht das Heavy Metal Zeichen.
Irgendwie bist du lustig, sagt der Wackelzahn.
Zerknirscht setze ich mich auf einen viel zu kleinen Stuhl. Mein Wert auf dem Transfermarkt hat gerade eine gewaltige Delle erlitten.
Die Tür geht auf, eine Frau schwenkt eine Brotbox und ruft: Jan-Malte, dein Frühstück!
Kann ich sie mal sprechen, fragt meine Freundin. Zu mir sagt sie: Übernimmst du kurz für mich?
Was steht auf dem Trainingsplan, frage ich. Mir bricht der Schweiß aus wie der Ätna in seinen besten Tagen.
Die arbeiten mit ihrem Wochenplan. Du musst sie nur begleiten und beraten. Den Rest machen sie selbst.
Ich gehe durch die Reihen. Manche rechnen bis 20, andere bis 100, einige machen das 1*1. Manche lesen kleine Geschichten, andere nur blaue und rote Silben. Der Wackelzahn schreibt Wörter, seine Nachbarin eine seitenlange Geschichte. Ein Junge sitzt mit Kopfhörern vor einem Tablet. Was machst du, frage ich ihn. Er zuckt mit den Schultern, sein Nachbar erklärt: Juri kann noch kein Deutsch, der ist neu.
Das Gespräch vor der Klassenzimmertür zieht sich in die Länge. Immer mehr Kinder wollen von mir beraten und begleitet werden, es wird hektisch. Hinten in der Ecke streiten sich zwei um einen Würfel und Jan-Malte glaubt, das eben gebrachte Frühstück genau jetzt verzehren zu müssen. Ich werde hektisch.
Es klingelt. Diesmal erschrecke ich nicht, sondern seufze erleichtert. Die Spieler stürmen vom Platz und rennen in die Halbzeit. Schneckentempo im Schulhaus, ruft meine Freundin, die plötzlich wieder neben mir steht
Wie geht das, frage ich. Jeder macht irgendwas anderes! Wieso lernen die nicht denselben Kram?
Ich habe mich mit deiner Welt beschäftigt und versuch’s mal in deiner Sprache, sagt meine Freundin. Das eben war Training, das läuft individuell. Klassenarbeiten sind die Punktspiele. Da muss dann jeder eine vorher definierte Leistung abrufen. Das Zeugnis ist die Tabelle am 34. Spieltag. Dann entscheidet sich, wer in der Liga bleibt oder in der nächsten Saison eine Klasse tiefer spielt.
Mir raucht der Kopf, sage ich.
Das ist aber noch nicht alles, sagt meine Freundin. In Deutschland gibt es 16 verschiedene Ligen, jede hat ihren eigenen Verbandspräsidenten und jede Liga verfasst eigene Spielregeln.
Und wenn ein junger Spieler umzieht und in eine andere Liga muss, frage ich.
Dann kann es sein, dass er oder sie mit ganz neuen Trainingsmethoden und Taktiken klarkommen muss.
Und das ist immer noch nicht alles, sagt meine Freundin. Wir haben Trainermangel. Deshalb arbeiten bei uns Trainer, die gar keine Trainer sind, sogenannte Quereinsteiger. Die sind heißbegehrt. Machen zum Teil einen richtig guten Job und sind motiviert, müssen aber auch noch von uns gecoacht werden.

Ich brauche frische Luft, sage ich. Draußen rennen die Spieler wild kreischend durcheinander. Der Platzwart meckert, weil ein Ball aufs Stadiondach geschossen wurde. Schon läutet die Klingel Halbzeit zwei ein. Bevor ich reingehe, werfe ich einen Blick in die Toiletten. Dreckig und auch olfaktorisch nah dran an den Stadiontoiletten.
Wieder drin im Stadion öffne ich viele Türen und sehe völlig unterschiedliche Trainertypen. Manche werden geduzt und sind die besten Freunde ihrer Spieler, andere sind harte Knochen wie van Gaal und werden gesiezt. Manche sitzen auf einer Teppichfliese inmitten der Mannschaft, andere kleben mit verkniffenem Gesichtsausdruck an ihrem Trainerstuhl, als müssten sie die Übungseinheit einer Gefängnistruppe anleiten. Hinter einigen Türen spürt man den intakten Teamgeist, hinter anderen halten sich die Spieler an keine taktische Vorgaben und gehen über Tische und Ersatzbänke.

Ich lande in der Turnhalle, meine Freundin hat Sport mit ihrer Klasse. Der Wackelzahn begrüßt mich mit der Pommesgabel, ich kontere lässig mit dem Stillefuchs. Wir grinsen uns an und ich starte das Scouting.
Überraschend viele Spieler sind nicht austrainiert, sondern übergewichtig. Sie schaffen keine drei Runden durch die Turnhalle und können auch nicht auf einem Bein stehen, ohne sich festzuhalten. Tja, seufzt meine Freundin, der Lockdown. Dafür zocken aber alle Fifa 22 an der PlayStation wie die Weltmeister.
Ab Montag bin ich mit einer 4. Klasse im Trainingslager, sagt sie. Eine Woche Jugendherberge in Oberreifenberg, Thema Römer. Willst du mitkommen als Athletiktrainer?
Ach, lass mal, sage ich. Mein Team hat eine englische Woche, da habe ich leider keine Zeit.
Damit haben wir einen neuen Spielstand:
Fußball: Eins!
Schule: Nuuulllll!
Danke.
Bitte.

Related Posts

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert