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Lukas und Lukas 2.0 (Ein Roman für fortgeschrittene Leser ab 9)

Was Lukas alles muss: Mit seinen Eltern wieder umziehen und sich neue Freunde suchen, Gitarre bei einem schmierigen Lehrer lernen, Entspannungsübungen machen, die seine Mutter viel nötiger hätte, Fleisch essen, obwohl er es eklig findet, Matheaufgaben an der Tafel vorrechnen. Lukas mag schon lange nicht mehr, ist aber ängstlich und macht alles brav mit.
Plötzlich liegt Lukas 2.0 neben ihm. Seine Weiterentwicklung, die Summe aller in ihm enthaltenen Möglichkeiten. Lukas 2.0 ist alles, nur nicht brav und ängstlich. Spätestens in der Concorde im Technikmuseum kracht es gewaltig. Damit alles nach Buttermilch schmeckt, muss Lukas nicht nur seine Ängst, sondern auch Lukas 2.0 wieder loswerden.

 

Text: Andreas Düll
Illustrationen: Can Tanriverdi

 

  1. Der Mathe-Geier
  2. Eine saugute Scheißidee
  3. Jetzt gehörst du mir
  4. Mama, komma schnell
  5. Im Märzen der Bauer die Röslein einspannt
  6. Damit hat Frau Peusen nicht gerechnet
  7. Fleisch und Körner?
  8. Britta, das Suppenhuhn
  9. Albträume
  10. Beim Rektor
  11. Vorspiel, Version 1.0
  12. Herr Janikowsky erleidet eine Innenohrzerrung
  13. Elfmetertraining
  14. Der Pokalschreck
  15. Essen auf Rädern
  16. Im Technikmuseum
  17. Schnell wie der Blitz
  18. Die uncoole Unterhose
  19. Vorspiel, Version 2.0

 

1.    Der Mathe-Geier

„Mathematik ist einfach das schönste Unterrichtsfach!“ Frau Peusen sitzt mit verknoteten Beinen auf dem Lehrerpult, blättert im Mathebuch und ihre schrille Stimme klingelt in meinen Ohren. Klar, Mathe ist das schönste Fach. Und Ohrenschmalz schmeckt besser als Erdbeereis.

Mit ihren dürren Beinen und dem nach vorne gestreckten Kinn erinnert sie mich an einen Geier. Ein Mathe-Geier in Stoffturnschuhen.
Vor einem Monat sind wir schon wieder umgezogen. Neue Stadt, neue Wohnung, neue Schule, alles neu. Mein alter Mathelehrer war ganz OK. Nicht, dass ich da alles kapiert hätte, aber ich hatte wenigstens keine Angst vor ihm.
„Igitt, was ist denn das?“ Angewidert zeigt Frau Peusen in die hintere Ecke des Klassenzimmers.
„Regenwürmer! Die züchten wir im Sachunterricht“, erklärt Marvin.
„Das ist ja obereklig! Tut die raus! Ich kann so nicht unterrichten.“
„Aber Frau Peusen! So ein paar Würmchen. Die tun doch nix!“, sagt Paula.
„Ich will die hier nicht sehen!“ Frau Peusens Stimme klingt noch schriller als sonst.
„Ich hab ne Idee!“ Paula steht auf und holt die Weihnachtstischdecke aus dem Schrank.
„Für die Mathestunde wird es doch gehen, wenn ich die Decke drüber hänge, oder?“, fragt Paula.
„Und die kommen auch wirklich nicht raus?“ Frau Peusen rutscht höher auf das Pult und hebt die Füße, als würde eine Maus durch die Klasse flitzen.
„Nein, die fühlen sich da superwohl.“ Paula steht vor dem kleinen Aquarium aus Glas. Unten sind Kieselsteine, dann wechseln sich Erd- mit Sandschichten ab, dazwischen kann man Laub, Heu, Kaffeefilter und Karottenschalen erkennen. Und kreuz und quer kriechen Regenwürmer.
„Die kommen nicht raus“, Paula hängt die Tischdecke über das Aquarium, „das ist das reinste Wurmparadies!“
„Für mich ist es die reinste Hölle!“ Frau Peusen schüttelt sich angeekelt. „Jetzt wird es aber Zeit für die Mathematik. Lukas Sander, geh doch mal an die Tafel. Wollen doch mal sehen, was mein Vorgänger dir beibringen konnte!“

Mein Herz beginnt zu galoppieren und der zentrale Rechner im Hirn stürzt ab. Ideale Vorrausetzungen, um an der Tafel vorzurechnen. Wie ein ferngesteuerter Zombie stehe ich auf. Mein Banknachbar Nick zwinkert mir aufmunternd zu. Dabei trommelt er mit Zeige- und Mittelfinger auf seine Uhr. Diese Armbanduhr ist ein Smartphone. Natürlich auch mit Taschenrechner. Das weiß jeder in der Klasse. Nur Frau Peusen weiß es nicht. Da ist sie so modern wie ein Schwarz-Weiß-Film, obwohl sie noch nicht mal 30 ist.
„679*26! Du machst den Überschlag, multiplizierst schriftlich und überprüfst das Ergebnis mit der Umkehraufgabe.“


Mein Hirn sendet SOS. Was will die Giftspritze von mir? Überschlag? Soll ich jetzt turnen? Flickflack im Klassenzimmer?
Nick hackt auf seiner Uhr rum, schreibt etwas und hält den rettenden Zettel in die Luft. BHGFE steht darauf. Seinen Geheimcode hat er mir gleich in der ersten Woche verraten. A steht für Null, B für Eins, C für Zwei, das ganze geht bis J für Neun.
Mit zittrigen Händen schreibe ich 17.654 an die Tafel.
„Was, wenn ich fragen darf, soll das darstellen?“ Frau Peusen kommt auf mich zu und richtet ihren knochigen Zeigefinger auf meine Lösung.
„Das, das ist das Ergebnis vom, äh, Überschlag“, stottere ich.
Sie stöhnt und verzieht das Gesicht, als hätte sie Bauchschmerzen.
„Lukas, das Ergebnis einer Überschlagsrechnung ist eine glatte Zahl. Es ist ein ungefähres Ergebnis!“
„Dann ist es ungefähr 17.654“, versuche ich mich zu retten.
Die Insel Helgoland taucht in Umrissen als hektischer roter Fleck an ihrem Hals auf.
„Runden!“, kreischt sie. „Du musst runden!“
Oh je, wenn ich jetzt nicht runde, werde ich rund gemacht. Zum Glück erlöst mich der Pausengong.
„Morgen machst du da weiter!“ Mit roter Kreide schreibt Frau Peusen ein fettes „Stehen lassen!“ unter die Aufgabe.
Alles strömt in die Pause. Frau Peusen sitzt an ihrem Pult und starrt auf die Tafel. Wahrscheinlich wundert sie sich, wie ich Matheniete im Kopf auf die richtige Lösung gekommen bin. Hat sie jetzt davon.

Malte stürmt an mir vorbei, einen Fußball unter dem Arm, und rammt seinen Ellenbogen in meine Rippen. Malte ist hier der Obermacker. Was er sagt, ist Gesetz. Die haben ihn sogar zum Klassensprecher gewählt. Entweder hat er alle bestochen oder ihnen Prügel angedroht, wahrscheinlich beides. So ein Riesenangeber als Klassensprecher, unglaublich. Er bleibt stehen und schaut mich verächtlich an. „Du bist echt ein Chefmathiker!“
„Ich brauch Treibstoff und geh mal zur Tanke.“ Nick will sich Richtung Kiosk verdrücken.
„Ah, Dick Nick macht Picknick!“ Malte grinst. „Dick Nick muss zum Glück nicht mehr runden!“ Er zwickt Nick in den kugeligen Bauch, boxt mir in die Rippen und zischt ab.
Nick ist tatsächlich dick. Weil es sich reimt, sagen es alle so gerne. Malte am meisten. Nick ist durchgehend online. Muss dauernd gucken, ob er neue Punkte gezockt hat. Oder ob sein Clan angegriffen wurde. Das macht er auch während des Unterrichts. Mit seiner Uhr merken es die Lehrer ja nicht. Und wenn er seine Internet-Schlachten schlägt, kann er sich halt selbst nicht bewegen.
„Wann kracht Malte in die Gletscherspalte?“, presst Nick zwischen den Zähnen hervor.
„Was?“ Ich versteh kein Wort, was Nick da redet.
„Mein persönlicher Malte-Fluch.“ Nick grinst breit. „Auf dass Malte erkalte in der Gletscherspalte.“
Mir reicht es. Sind die hier alle durchgedreht? Ich will weg, weit weg!
Was ich schon über den neuen Schulhof weiß: Bei den Müllcontainern steht eine kleine Kiefer. Die hat einen Ast, der parallel zum Boden wächst. Darauf sitze ich am liebsten in der Pause, mit dem Rücken an den Stamm gelehnt. Ich drücke mich mit Rücken und Po zuerst durch das stachelige Gebüsch, das die Kiefer umgibt. Wegen dieser Stacheln ist der Baumsessel wohl auch immer frei. Ich setze mich, lehne mich zurück, schließe die Augen und atme den Kiefernduft tief ein. Endlich hab ich meine Ruhe.


„Störe ich?“ Nick quetscht sich mampfend durchs Gebüsch.
„Ja“, sage ich, obwohl ich es eigentlich gar nicht so meine. Nick lässt sich aber nicht so leicht abschrecken. Er steht da, kaut seinen Keksriegel und schaut mich kopfschüttelnd an.
„Wenn du jede Pause hier hockst, findest du aber keine Freunde.“
„Ich will gar keine neuen Freunde.“
„Wiescho dasch?“ Nick sprüht mir Kekskrümel entgegen und schaut verwundert.
„Bist du schon mal umgezogen?“, frage ich ihn.
„Nein, wieso sollte ich?“
„Weil du vielleicht einen Vater hast, der dauernd seinen Job wechselt.“
„Hab ich aber nicht.“
„Aber ich! Vor meiner Einschulung sind wir umgezogen und jetzt in der vierten Klasse schon wieder. Ich hab echt keine Lust mehr. Immer alles neu.“
„Und hattest du in der alten Schule Freunde?“, fragt Nick.
„Ja, zwei. Und so gute Freunde werde ich nie mehr finden.“
„Ach so. Dann geh ich mal.“ Nick dreht sich um und drückt sich durch das Gebüsch.
„Warum hast du eigentlich keine Freunde?“, rufe ich ihm hinterher.
„Ich habe viele Freunde!“ Er zeigt auf seine Uhr, die eigentlich ein Smartphone ist, und geht weiter.
Komischer Kerl, seine Internetfreunde sind doch keine richtigen Freunde. Einen Vorteil haben sie aber, sogar einen ganz gewaltigen: Ob man umzieht oder nicht, die Internetfreunde bleiben gleich. Das ist die Lösung: Ich will nur noch Internetfreunde. Dafür brauche ich aber ein Smartphone.
Alle in der neuen Klasse haben coole Handys. Na ja, fast alle. Mit tausend Apps und Spielen zum Runterladen. „Wofür brauchst du ein Handy, wenn du noch in die Grundschule gehst?“, hat mein Vater gefragt. „Nach den Sommerferien in Klasse 5 können wir darüber nachdenken!“
Und dann hat er mir doch schon ein Handy geschenkt. Zum Umzug! Er hatte wohl ein schlechtes Gewissen. Aber so einen Steinzeitknochen ohne Internet, noch nicht mal mit einem MP3 – Player oder einer Kamera.
„Dafür hat es eine Taschenlampe!“, hat er begeistert erzählt. „Und es hat nur 20 € gekostet. Es könnte also auch mal runterfallen!“Eine Taschenlampe. Großartig. Damit ich mich auf dem Schulhof selbst anleuchten kann: Hallo Leute, hier ist euer Opfer mit Steinzeithandy!
Mein Papa ist ebenfalls der Meinung, mein Schulranzen sei noch gut. Den könnte ich auch in der 5. Klasse weiterbenutzen.
Logo, wieder eine neue Schule, 1200 Schüler. 1199 Rucksäcke und ein Schulranzen mit Piraten drauf. Und mit tollen Reflektoren, sagt mein Vater. Vielleicht kommt er auch auf die Idee, dass es noch sicherer wäre, würde ich mein ABC-Einschulungskäppi aufsetzen und die ADAC-Verkehrsweste überziehen. So ausgerüstet, könnte ich auf dem Schulhof mit der Taschenlampe meines Handys Leuchtsignale absetzen: „AN ALLE! VOLLHORST HAT NOCH TERMINE ZUM VERPRÜGELN FREI!“
Der Zorn steigt in mir hoch und ich spüre beim Sitzen, wie diese Peinlichkeit aus der digitalen Steinzeit in meiner hinteren Hosentasche drückt.

2.    Eine saugute Scheißidee

Mein Blick fällt auf die Müllcontainer. Da kommt mir eine Idee. Zum ersten Mal an diesem Tag grinse ich. Ich springe vom Ast, quetsche mich durch das Stachelgebüsch und schlendere unauffällig zum Müllcontainer. Dabei sehe ich mich nach allen Seiten um. Gleich landet der Knochen in der Tonne. Da, wo so ein Schrott hingehört. Wie eine eklige, tote Maus angele ich das Teil mit spitzen Fingern aus der Hosentasche. Die großen, im Dunklen leuchtenden Tasten, die sogar ein Tattergreis mit seinen Rheumafingern noch treffen kann, scheinen mich auszulachen.
„Und ein Spiel gibt es auch!“, hat mein Vater stolz erzählt. „Eine Schlange, die sich nicht in den Schwanz beißen darf!“
Ich öffne den Containerdeckel und schleudere das verhasste Ding in die Tonne. „Stirb, Schlange!“, zische ich als letzten Gruß.

Da nehme ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Malte! Keine 10 Meter entfernt bückt er sich, angelt seinen Ball aus dem Gebüsch und schaut mich kopfschüttelnd an. Verdammt, seit wann steht er da? Hat er was mitbekommen?
Es klingelt. Mein Bauch fühlt sich plötzlich an, als hätte ich heute Morgen Betonmüsli gefrühstückt. Wir haben Deutsch bei Frau Wagner, unserer Klassenlehrerin. Die ist ganz in Ordnung und das Fach ist es auch. Aber wenn ich ein cooles Handy und Internetfreunde will, brauche ich genau jetzt eine gute Geschichte. Malte hat ja nur den Ball aus dem Gebüsch geholt. Er hat meine Elektronik-Schrott-Entsorgung bestimmt nicht beobachtet. Ich fasse etwas Mut und melde mich.
„Was gibt es, Lukas?“
„Ich glaube, mein Handy ist gestohlen worden“, sage ich leise.
„Als ob, der Dieb müsste noch Geld kriegen, damit er das Schrottding klaut!“, blökt Malte los.
„Du redest nur, wenn du dran bist, Malte!“, sagt Frau Wagner.
Die ganze Klasse lacht über Maltes Spruch, nur Nick zischt mir zu: „Gletscherspalte!“
„Wann hast du das Handy zuletzt gesehen?“, fragt Frau Wagner, als wieder Ruhe eingekehrt ist.
„Vor dem Unterricht. Es war in meinem Ranzen.“
„Hat jemand etwas beobachtet?“ Frau Wagner schaut fragend durch die Reihen.
„Tja“, sagt Malte genüsslich.
„Was heißt tja?“ Frau Wagner spießt den breit grinsenden Malte mit den Augen auf.
„Na ja, halt tja.“
„Malte, wenn du was zu sagen hast, drücke dich verständlich aus!“, ermahnt Frau Wagner.
„War nicht so wichtig. Es geht ja nur um Schrott“, winkt Malte ab.
„Damit hast du dir endgültig eine Strafarbeit verdient“, sagt Frau Wagner. „Und da niemand etwas beobachtet hat und ich nicht wie ein Polizist eure Taschen durchsuchen darf…“
„Es könnte ja auch jemand aus einer anderen Klasse gewesen sein. Die Religruppe war hier drin, als wir mit Ethik in der 4a waren“, unterbricht Mia Frau Wagner.
„Das macht es ja noch komplizierter. Lasst eure Handys zu Hause, ihr dürft sie sowieso nicht einschalten.“
Nick grinst neben mir wie ein Honigkuchenpferd und streichelt liebevoll seine Uhr mit den paar netten Zusatzfunktionen.
„Die Schule kann keine Verantwortung für mitgebrachte Wertgegenstände übernehmen. Wer das Handy ‚zufällig’ findet, kann es mir heimlich aufs Pult legen. Oder wenn doch noch jemand etwas beobachtet hat: Schreibt mir einen Zettel.“
Frau Wagner seufzt und setzt sich an ihr Pult.
„So, holt bitte euer Sprachbuch raus. Nach diesem Kriminalfall kehren wir nun zu den 4 Fällen zurück.“
Saublöder Witz, wenn ich Zeit habe, lach ich mich kaputt. Aber konzentrieren kann ich mich nicht mehr auf die 4 Fälle. Ich hibbele auf dem Stuhl rum. Wenn Malte doch was gesehen hat? Dann bin ich geliefert.

„Was hampelst du so?“, flüstert mir Nick zu. „Kriegst du Stress mit deinen Eltern?“
„Bestimmt auch“, flüstere ich zurück.
„Wieso auch? Mit wem noch?“
Wie gerne würde ich Nick jetzt alles erzählen. Dass ich auch ein cooles Handy und Internetfreunde haben möchte. Dass ich mein Handy in den Container geschmissen habe und dass Malte mich dabei vielleicht beobachtet hat. Aber ich traue mich nicht. Ich kenne ihn ja noch gar nicht richtig.
„Ach, nichts“, sage ich leise.

3.    Jetzt gehörst du mir

Der Rest der Stunde plätschert an mir vorbei. Mit gefühlt sieben Kilogramm Hausaufgaben endet dieser bescheuerte Schultag.
Ich gehe zu den Fahrradständern. Dort steht mein Trike. Ich kann zwar nicht gut rechnen. dafür kann ich gut bauen. Hat mir mein Opa beigebracht. Was hilft es, alles ausrechnen zu können, wenn man aber keine Schraube festdrehen kann? Mein Opa und ich haben ein Liegefahrrad mit drei Rädern gebaut: Bretthammerfett!
Vorne zwei Räder, hinten eins. Das Teil geht ab wie ein Zäpfchen. Mit geschlossener Fahrerkabine, also immer trocken. Zum Einsteigen ist die Kabine zweigeteilt. Ich klappe das vordere Teil hoch, gleite in die Sitzschale und schließe die Kabine. Was für ein Tag! Endlich habe ich meine Ruhe.

Eine Autobatterie versorgt mein Trike mit Strom. Es hat LED-Scheinwerfer, richtige Blinker und ein Radio. Und, schnallt euch an: Einen kleinen Bordkühlschrank. Der ist links vom Hinterrad, die Batterie rechts. Ich drehe mich nach links und tippe meine geheime Buchstabenkombination ein. Die Starwars-Melodie ertönt, und die Kühlschranktür öffnet sich. Aus den endlichen Weiten des eiskalten Kühlraums greife ich eine Buttermilch und kippe mir den halben Liter in den Hals. Leider muss ich die Autobatterie oft laden. Das Solarmodul auf dem Dach funktioniert noch nicht optimal. Ich müsste mal Opa anrufen und ihn fragen. Der beste Opa der Welt. Aber gerade liegt er im Krankenhaus. Wegen so einer blöden neuen Hüfte. Außerdem hat er neben uns gewohnt. Vor dem Umzug. Nichts ist mehr so, wie es sein soll. Wütend trete ich in die Pedale. Nach 5 Zentimetern werde ich schlagartig gebremst wie ein landender Kampfjet auf einem Flugzeugträger. Ich trete stärker in die Pedale. Eine unsichtbare Kraft zieht mich nach hinten. Weil ich nicht vom Fleck komme, klappe ich die Kabine wieder auf, steige aus und umrunde mein Gefährt.
Mein Trike hat hinten eine Stoßstange. Der wirkliche Zweck ist aber, dass sich jemand darauf stellen und mitfahren kann. Jetzt ist die Stoßstange mit einem Fahrradschloss am Ständer angeschlossen. Ich rüttele am Schloss. Mist, zuer als zu. Genaugenommen am zusten, auch wenn kein Deutschlehrer diese Steigerung bisher kennt.
Während mein Hirn den Lösungsmodus hochlädt, schlendert Malte lässig auf mich zu. Er baut sich vor mir auf und zieht einen Schlüssel aus der Hosentasche. Mit Daumen und Zeigefinger schwingt er ihn vor meiner Nase wie ein Weihnachtsglöckchen.
„Spinnst du!“, bläst er mich an. „Kommst hier neu in die Klasse und beschuldigst uns, wir hätten dein Schrotthandy geklaut!“
Mist, er hat es also gesehen.
„Ich, ich will doch auch nur ein richtiges Handy“, stammele ich.
„Dann kauf dir eins! Aber verdächtige keine Unschuldigen!“
„Mein Vater erlaubt es aber nicht!“
„So, Sanderchen. Von mir aus lass dein Gurkenhandy in der Tonne. Aber du weißt, dass ich dich gesehen habe.“
Er öffnet das Schloss und bohrt mir seinen Zeigefinger in die Brust: „Ab jetzt gehörst du mir!“
Als er weg ist, zittern mir die Knie. Ich drehe das Radio an. Die Musik nervt, ich brauche Ruhe. Malte hat alles gesehen. Ab jetzt gehörst du mir. Verdammt, was meint er damit? Er war so schon ein Kotzbrocken.
Es gibt nur eine Lösung: Ich muss in den versifften Müllcontainer und das Handy rausfischen. Lecker! Und morgen erzähle ich, dass ich es zu Hause entdeckt hätte. Guter Plan. Dann hat Malte nichts in der Hand. Ich entriegele den Kühlschrank und kippe eine zweite Buttermilch. Jetzt muss ich es hinter mich bringen. Müllcontainer-Tauchen ist bestimmt noch keine olympische Disziplin. Schade, dass ich keine Wäscheklammer für die Nase dabei habe. Es stinkt sicherlich bestialisch. Ich steige aus und laufe widerwillig Richtung Müllcontainer. Der gelbe ist für Verpackungen, der blaue für Papier, im schwarzen Restmüllcontainer liegt mein Handy. Weit und breit keiner zu sehen. Ich hebe den Deckel an und spähe hinein. Mich trifft der Schlag! Bis auf ein paar klebrige Tüten und Papierreste am Boden ist das Mistding leer. Verdammt, in der 5. oder 6. Stunde müssen die Müllmänner da gewesen sein. Damit steht fest: Malte wird mich vernichten.
Im Schneckentempo fahre ich heim.
„Warum kommst du so spät?“ Mein Vater fängt mich schon an der Haustür ab.

„Ich konnte das Schloss nicht öffnen!“ Damit habe ich noch nicht mal gelogen.
„Und was machst du hier?“, frage ich zurück.
„Ich arbeite heute Mittag zu Hause und muss erst heute Abend zu einem Termin. Und jetzt habe ich uns leckere Steaks in die Pfanne gehauen.“
„Ich mag doch kein Fleisch!“, sage ich.
„Du wächst noch und Fleisch ist wichtig für deine Entwicklung!“ Mein Vater haut mir kumpelhaft auf die Schulter.
Jetzt kommt auch meine Mutter nach Hause.
„Wie war dein Vorstellungsgespräch?“, fragt mein Vater.
„Ach, ich weiß nicht, ob ich in so einer großen Firma arbeiten könnte, Stefan. Meine eigene Praxis vermisse ich doch sehr!“
Meine Mutter ist Psychologin, nennt andere oft beim Namen und sendet Ich-Botschaften.
„Was wären deine Aufgaben in der Firma?“, fragt mein Vater.
„Personalwesen, Leute einstellen…“
Abrupt bleibt meine Mutter stehen und schnuppert. Dann geht sie in die Küche und schaut in den Backofen.
„Ich finde es nicht gut, dass du Pommes machst, Stefan. Wir wollten doch mehr auf eine gesunde Ernährung achten.“
„Ulrike, dann koche bitte selbst. Du könntest dich auch bei mir bedanken, dass ich koche, obwohl ich eigentlich am Schreibtisch sitzen müsste.“
Jetzt gehen wieder diese Diskussionen los. Genervt verziehe ich das Gesicht.
„Lukas, du siehst gestresst aus. Mach vor dem Essen deine Entspannungsübungen!“ Meine Mutter glubscht mich durchdringend an wie einen ihrer Patienten.
„Du überträgst deine Anspannung auf Lukas, Ulrike.“
„Wären wir nicht umgezogen, müsste ich mir keinen neuen Job suchen, Stefan! Überlege bitte einmal, woher mein Stress kommt!“
„Deck schon mal den Tisch, Lukas. Das Essen ist bald fertig!“ Mein Vater hat das heiße Pommesblech mit Topflappen aus dem Backofen gezogen.
Schlechtgelaunt lasse ich die Teller auf den Tisch krachen.

„Wie war es in der Schule?“, fragt er und ignoriert das Scheppern der Teller.
„Bescheuert. Die Mathelehrerin ist ein Monster, der Klassensprecher ein fieser Angeber und alle haben coole Handys.“
„Jetzt fang doch nicht wieder damit an!“ Mein Vater spießt eine Pommes mit der Gabel auf. „Schön knusprig, so müssen sie sein!“
Meine Mutter schaut ihn finster an. Dann legt er mir ein Steak auf den Teller.
„Papa, ich will kein Fleisch.“
„Dann nimm ein halbes Steak.“
„Ich will gar kein Fleisch. Ich kann das nicht schlucken.“
„Schneid es schön klein. Dann kriegst du es runter. Das gibt Kraft.“
„Lass ihn doch, wenn er kein Fleisch essen will!“, sagt meine Mutter.
„Ja wie, ich dachte, wir wollen mehr auf die Ernährung achten? Fällst du mir jetzt auch noch in den Rücken?“
„Man kann sich auch ohne Fleisch gesund ernähren!“, sagt meine Mutter.
„Genau. Immer dreht sich alles um dich. Immer hast du Recht.“ Vorwurfsvoll schaue ich meinen Vater an.
„Was soll denn das jetzt heißen?“ Mein Vater hat Messer und Gabel hingelegt und schaut mich fragend an.
„Dass wir schon wieder umgezogen sind…“, sage ich leise.
„Meint ihr, ich mache das zum Spaß? Immerhin verdiene ich damit unser Geld.“
„Ich habe auch Geld verdient, bevor wir umgezogen sind“, sagt meine Mutter.
„Du hattest eine halbe Stelle.“
„Richtig, weil wir noch ein Kind haben, Stefan!“
„Ich weiß. Und für dieses Kind habe ich heute recherchiert! Ich denke nämlich nicht nur an mich. Ich habe einen Aufnahmeantrag für Lukas hier im Fußballverein gestellt.“
„Papa, ich habe Leichtathletik gemacht.“
„Das gibt es hier in dem Kaff nicht. Aber laufen muss man doch beim Fußball auch. Außerdem spielt da der Sohn von dem ehemaligen Bundesligaprofi. Der den Unfall im Stadion hatte und jetzt im Rollstuhl sitzt.“
Papas Gesicht glüht rot. So eine Story gefällt ihm als Journalisten.
„Morgen ist das erste Training. Und jetzt lasst uns essen, bevor alles kalt wird.“
Ich muss würgen, als ich mir das faserige Fleisch in den Mund schiebe. Das restliche Essen verläuft schweigend. Ich erzähle nicht, dass mein Handy weg ist. Und auch nicht, dass der Sohn von dem ehemaligen Bundesligaprofi Malte ist.
Endlich kann ich in mein Zimmer. Ich nehme mir eine Buttermilch mit. Die beruhigt.
Das neue Zimmer ist größer als mein altes. Aber nichts stimmt hier. Es riecht nach frischer Farbe. Noch hängen nicht alle Bilder an der Wand und das Fenster geht nach hinten raus in den Garten. Da ist es nachts stockdunkel. Mein altes Kinderzimmer hatte ein Fenster zur Straße. Da schien nachts immer eine Straßenlaterne.
Ich ziehe den Aludeckel der Buttermilch auf und trinke in kleinen, genussvollen Schlucken. Letzten Sommer waren wir drei Wochen auf einer Alm. 1500 Meter hoch in den Alpen. Das war cool. Meine Eltern hatten alle Zeit der Welt, keiner war gestresst. Mein Opa war auch mit. Und wir haben mit dem Bergbauern Buttermilch gemacht. Buttermilch schmeckt für mich nach Urlaub. Ich lege mich aufs Bett und schlafe vor Erschöpfung ein.
Als ich wieder wache werde, quäle ich mich durch die Hausaufgaben. Danach beginne ich aus Lego eine Festung zu bauen. Mit versteckter Kommandozentrale, dicken Mauern und scharfen Geschützen. Uneinnehmbar!
„Geh doch mal an die Luft! Vielleicht triffst du andere Kinder?“ Meine Mutter hat ihren Kopf zur Tür reingesteckt.
„Keine Lust. Ich will hier bauen!“

Abends liege ich im Bett und kann nicht einschlafen. Erstens habe ich heute Mittag geschlafen, zweitens bin ich total unruhig und aufgedreht. Mir reicht es. Ich will nicht mehr der Lukas sein, der macht, was die anderen wollen. Umziehen in eine blöde, fremde Stadt. Fleisch essen, obwohl ich es eklig finde. Ich will keine Angst mehr haben müssen, weil Malte mich am Müllcontainer gesehen hat oder dass ich mich in Mathe an der Tafel blamiere. Ich will anders sein. Ein anderer sein…
Ich wälze mich von links nach rechts und wieder zurück. Es ist viel zu dunkel hier. Ich knipse die Schreibtischlampe an. Gerade bin ich am Einnicken, da lässt mich ein Dröhnen hochschrecken. Schlagartig sitze ich senkrecht im Bett. Fährt ein Panzer durch unseren Garten? Die Frachtflugzeuge schrauben sich hier kurz vor elf in den Himmel, hat mein Vater gesagt. Ich schaue auf die Uhr: 22.47 Uhr. Die Welt geht also nicht unter, es ist nur ein Flugzeug. Und dann kommt schon wieder eins. Ich schließe das gekippte Fenster. Jetzt sind die Flieger leiser, dafür schwitze ich.
Ich will hier weg. Ich will ein anderer sein. Es ist weit nach Mitternacht, als ich endlich einschlafe.

4.    Mama, komma schnell

Neben mir startet eine Rakete. Ich träume vielleicht einen Mist zusammen. Es ist aber kein Traum, sondern mein Wecker. Weil ich morgens immer verschlafe, weckt mich eine startende Rakete. Die hebt ab und der piepsende Alarm stoppt nur, wenn man in seinem morgendlichen Tran die Rakete findet und sie auf die Abschussrampe zurücksteckt.
Ich stolpere aus dem Bett und mache mich auf die Suche. Dieses Mistding. In meinem alten Zimmer ist sie einmal hinter der Heizung steckengeblieben. Und der Wecker hat die ganze Zeit fröhlich weitergepiepst. Ich krieche unter das Regal, finde keine Rakete, tauche aber zu früh wieder auf und krache volle Kanone mit dem Hinterkopf gegen das Regalbrett. Ich sehe Sternchen, knock out, game over.
„Weiter links!“, höre ich eine Stimme durch das Gepiepse.
Was war das? Das Teil ist doch nicht sprachgesteuert.
„Hinter dem Papierkorb!“, sagt eine Stimme, die mir irgendwie bekannt vorkommt. Der Umzug und die Handygeschichte mit Malte machen mich fertig. Jetzt höre ich schon Stimmen. Ich drehe mich um. Und reiße vor Schreck den Mund auf. Und kriege ihn nicht wieder zu. In meinem Bett liegt einer. Er sieht so aus wie ich. Er trägt meinen Schlafanzug und hat links den gleichen unzähmbaren Haarwirbel. Wie ich hat er ein Muttermal über der Lippe.
„Aaaahhhh“, schreie ich. Der Typ da in meinem Bett: Das bin ich!
„Ich bin tot!“, rufe ich entsetzt.
In einer Zeitschrift habe ich mal gelesen, dass man seinen Körper nach dem Tod von außen sehen könnte.
„Du bist nicht tot. Ganz im Gegenteil!“, sagt der Typ in meinem Bett.
„Wer, wer bist du?“, stottere ich und betaste meinen Hinterkopf. Eine Riesenbeule schwillt in Rekordtempo an meinem Schädel.
„Ich bin ich, aber auch du,
du bist ich, lässt du es zu.“
Der Typ hat Nerven. Sieht aus wie ich, grinst und sagt rätselhafte Verslein auf.
„Dein Wecker geht mir auf den Wecker!“, sagt mein Doppelgänger und setzt sich auf die Bettkante. „Hol doch mal die Rakete hinter dem Papierkorb.“
Die erste gute Idee heute Morgen. Mit zitternden Händen stecke ich die Rakete auf die Rampe. Stille.
Der Typ aber ist immer noch da. Versteckte Kamera? Soll das auf YouTube? Wollen die mich hier völlig fertig machen? Ist das ein Roboter, der aussieht wie ich?
„Ich, äh, ich bin Lukas“, stammele ich. Wenn man jemand trifft, den man nicht kennt, stellt man sich vor. Auch wenn er aussieht wie der eigene Zwilling. Das muss es sein. Ich habe einen Zwilling, den meine Eltern geheim gehalten haben. Wir wurden direkt nach der Geburt getrennt. Er wuchs in Amerika auf. Oder in Russland. Vielleicht auch in Timbuktu. Ich halt in Deutschland.
„Ich weiß, dass du Lukas bist. Ich weiß noch viel mehr: Du willst nie mehr umziehen, findest Fleisch eklig, Malte gehört in die Gletscherspalte und Mathe ist dein Hassfach.“
Mit offenem Mund starre ich mein Spiegelbild an. „Woher weißt du das?“
„Ich bin ich, aber auch du,
du bist ich, lässt du es zu!“, wiederholt er.
„Wer bist du?“, wiederhole ich ungläubig.
„Ich bin Lukas 2 Punkt 0.“
„Häh?“
„Deine Weiterentwicklung! Dein Update! Die Summe deiner Möglichkeiten!“
„Ich verstehe kein Wort!“ Wahrscheinlich habe ich eine Gehirnerschütterung und sehe deshalb Gespenster.
„Hast du nicht“, sagt Lukas 2.0.
„Was habe ich nicht?“
„Eine Gehirnerschütterung“, antwortet er.
Moment, was ist denn hier los?
„Kannst du Gedanken lesen?“
„Deine schon“, sagt mein Doppelgänger seelenruhig. Ich muss mich setzen. Jetzt sitzen zwei Lukasse auf dem Bett.
„Mama!“, brülle ich. „Kommaschnell!“
Lukas 2.0 lacht mich an: „Kommaschnell, ein schnelles Komma. Das würde deine Deutschlehrerin auch sehr interessant finden.“ Hilfe, der Typ macht mich völlig gaga.
„Maaaaamaaaaa“, brülle ich noch mal.
„Brüll doch nicht so am frühen Morgen!“ Meine Mutter reißt die Tür auf. Ich starre sie erwartungsvoll an. Sie schaut fragend zurück.
Unauffällig nicke ich mit dem Kopf in Richtung Lukas 2.0.
„Was sind das für Zuckungen? Hast du gestern deine Entspannungsübungen nicht gemacht?“ Meine Mutter schaut, als würden jeden Morgen zwei Lukasse auf dem Bett sitzen.
„Wir haben uns heute Morgen den Kopf gestoßen!“
Ich lege sprachlich einen Köder aus. Jetzt muss sie doch kapieren, dass wir hier zu dritt sind.
„Das scheint ein bedenklicher Stoß gewesen zu sein. Du redest von dir in der Mehrzahl. Diese Mehrzahl nennt man übrigens Pluralis Majestatis und wurde früher von Kaisern und Königen benutzt.“
Es soll Mütter geben, die erst mal die Beule untersucht und ihr Kind in den Arm genommen hätten. Meine Mutter hält lieber einen Vortrag.
„Muss ich in die Schule? Es tut saumäßig weh!“ Das ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber das Horn pocht und pulsiert schon ganz ordentlich.
„Mal schauen!“, sagt meine Mutter und startet ihr Abcheck-Programm. Ich soll ihr sagen, wie viele Finger sie zeigt, muss mit geschlossenen Augen auf einem Bein stehen und Überkreuzbewegungen von Armen und Beinen vor und hinter dem Körper machen.
„Heute ist kein Sportunterricht?“
„Nein, Sport ist hier immer donnerstags.“
„Dann bist du schultauglich!“ Meine Mutter klopft mir auf die Schulter.
Gibt sie mir jetzt noch einen Stempel auf die Stirn? Eine TÜV-Plakette?
„Und jetzt genug getrödelt! Ab zum Frühstück! Vergiss deine Gitarre nicht. Heute ist wieder Probe für diesen Aulatreff vor den Osterferien.“
Das hat sie sich gemerkt: Aulatreff. Jetzt schmerzt mein Kopf auch ohne Beule. Vorspielen auf der Bühne. Ganz alleine da oben sitzen. Alle Kinder von allen Klassen sind da und glotzen einen an. Und alle Lehrer und viele Eltern.
Ich hasse es! Ich hasse es! Ich hasse es!
Als ich mir eine halbe Stunde später im Flur die Schuhe binde, hämmert es in der Beule, als würde ein Specht dagegen klopfen.
„Was machst du jetzt eigentlich?“, frage ich Lukas 2.0 leise, der neben mir im Flur steht.
„Ich gehe mit in die Schule!“, sagt er, als sei dies die normalste Sache der Welt.

5.    Im Märzen der Bauer die Röslein einspannt

Ich schnappe den Schulranzen und die Gitarre und hole das Trike aus der Garage. Der Schulranzen passt neben mich auf die Autobatterie, die Gitarre schnalle ich mit Gummibändern außen an die Fahrerkabine. Mein Opa hat extra für die Gitarre mit Haken eine Haltevorrichtung gebaut, so dass mir das Instrument nicht die Sicht behindert.
„Und du?“ Fragend schaue ich Lukas 2.0 an, nachdem ich die Kabine geschlossen habe.
„Fahr doch einfach!“ Er wedelt ungeduldig mit der Hand.
Ich gebe Druck auf die Pedale. An so verrückten Tagen ist es gut, etwas Vertrautes zu tun. Mein Trike nimmt Geschwindigkeit auf. Hier ist so wenig Verkehr, da kann ich gefahrlos über die Straße kacheln. Bald schon knackt der Tacho die 30 Stundenkilometer. Aber wo ist Lukas 2.0? Im Rückspiegel sehe ich ihn vergnügt auf der Stoßstange stehen.
Obwohl ich für zwei strampele, fühlt sich mein Trike kein bisschen schwerer an als sonst. Komisch. Zwei Häuserblocks weiter vorn taucht Nick auf. Er fährt mit dem Rad, allerdings in einem Tempo, bei dem die meisten schon wieder umkippen würden. „Der Schlaue schwitzt beim Essen, nicht beim Strampeln!“, hat er vor ein paar Tagen gesagt, als ich ihn auf seinen Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Fahrstil angesprochen habe.
Ich bremse auf Schritttempo ab.
„Alles klar?“, fragt Nick.
„Ne, hab mir heute Morgen den Kopf gestoßen. Megabeule!“, rufe ich nach draußen.
„Hast du dein Handy zu Hause gefunden?“, ruft Nick.
„Ne.“
„Haben deine Eltern gemeckert?“
„Ich hab’s noch gar nicht erzählt.“
„Ich habe nachgedacht“, ruft er. „Wenn das Teil an ist, kannst du es von der Polizei orten lassen.“
„Die haben bestimmt Besseres zu tun, als nach so einem Billigteil zu suchen.“
„Wieso? Diebstahl ist Diebstahl!“, empört sich Nick.
Er sagt keinen Ton wegen meines Beifahrers.
„Fällt dir nichts an mir auf?“, frage ich.
Er beäugt mein Gefährt von oben bis unten.
„Nö. Was sollte mir auffallen?“
„Schon gut. Ich fahr dann mal vor!“
Jetzt ist mir endgültig klar: Er kann dich nicht sehen. Niemand außer mir kann dich sehen, stimmt’s?
„Du hast Recht. Meistens kannst nur du mich sehen“, ruft es von hinten.
Während ich mein Gefährt am Fahrradständer ankette, grübele ich über das ‚meistens’ nach.
„Wirst du alles noch früh genug kapieren“, sagt Lukas 2.0.
„Da bin ich ja mal gespannt“, sage ich.
„Laberst du mit dir selbst oder hast du dein tolles Handy wieder aus dem Müll gefischt?“ Malte ist aufgetaucht, legt sein Schloss um mein Vorderrad und lässt es zuschnappen.
Ich sage nichts und starre ihn ängstlich an.
„Gib mir mal einen Euro Parkgebühr!“ Er hält die Hand auf. „Ich brauch was für den Kiosk!“
Verdammte Hacke, die fiese Ratte will mich erpressen. Lukas 2.0 fletscht die Zähne und fängt an zu knurren.
„Ich, ich hab kein Geld dabei“, stottere ich.
„Dann morgen zwei Euro. Sonst erzähle ich, was ich im Gebüsch gesehen habe!“ Er spannt seinen Mittelfinger mit dem Daumen und lässt den gekrümmten Finger gegen mein Kinn schnalzen. Dann schließt er auf und macht sich mit seinem Schloss vom Acker.
„Was wollte die Gletscherspalte?“ Nick ist inzwischen auch eingetrudelt.
„Ach, nichts. Wir haben nur über mein Handy geredet.“
Es klingelt. Wir gehen in die Klasse.
„Kommen die Herren auch schon?“ empfängt uns Frau Wagner.
„Wir üben jetzt gleich für den Aulatreff.“
Ich war so blöd, Frau Wagner zu erzählen, dass ich schon seit zwei Jahren Gitarrenunterricht habe. Deshalb soll ich „Im Märzen der Bauer“ vorspielen.
„Da kannst du dich als Neuer der Schulgemeinde präsentieren“, hat Frau Wagner gesagt.
Ich hasse es! Ich hasse es! Ich hasse es! Hatte ich ja schon gesagt. Ich will mich gar nicht präsentieren, sondern stehe lieber hinten in der letzten Reihe.
Wir gehen in die Aula. Die ist jetzt nicht bestuhlt. Deshalb tragen wir zwei Turnbänke vor die Bühne und setzen uns darauf wie Hühner auf die Stange.
„Lukas, fang doch mal an!“, sagt Frau Wagner.
Mit zittrigen Fingern schäle ich die Gitarre aus der Schutzhülle.
Während ich zum Stuhl auf der Bühnenmitte stolpere, werden meine Knie weich, die Hände klatschnass und das Herz rast wie ein Formel-1-Auto. Dabei ist heute bei der Probe nur unsere Klasse da. Aber das reicht mir schon. Und nächste Woche ist die ganze Aula voll!
„Stell dir vor, du wärst alleine oder deine Zuschauer hätten alle rosa Unterhosen an.“ Meine Mutter hat immer die schlausten Tipps.
Ich kann und will mir das aber nicht vorstellen, vielmehr bleibt mir die Luft weg, ich kann nicht mehr atmen und kriege einen ketchup-roten Kopf.
Marvin betritt als Ansager die Bühne, verbeugt sich tief und sagt, und ich bin mir sicher, er sagt das absichtlich falsch: „Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer. Aus der 4c hört ihr Lukas Sander mit: Im Märzen der Bauer die Röslein einspannt.“
Die Röslein einspannt. Es heißt Rösslein, so ein Blödmann. Ich versuche mich auf mein Stück zu konzentrieren. Die Melodie beginnt mit einem „D“. Ich ziehe an der blöden D-Saite. Meine ganze Wut zieht mit, immer fester, meine Wut über den Umzug, Maltes Erpressung, über Marvins blödes Röslein und das verdammte Vorspielen überhaupt.
Immer weiter ziehe ich die wehrlose Saite vom Schallloch weg, um sie am Schluss wie ein Bassspieler schnalzen zu lassen. Es schnalzt aber nicht, dafür ertönt ein helles, schnarrendes „Ploink“. Meine D-Saite ist gerissen. Bis auf Nick und meine Lehrerin wälzen sich alle lachend am Boden.
„Mit fünf Saiten kann ich nicht spielen“, sage ich und packe die Gitarre in die Schutzhülle.
„Das nächste Mal nicht so verkrampft“, sagt Frau Wagner, als wieder ein bisschen Ruhe eingekehrt ist. „Du musst beim Spielen mehr entspannen!“
Sprüche wie von meiner Mutter.
„Jo, entspann dich mit deinem Röslein!“, grölt Malte.
Wie der wohl aussieht, wenn ich ihm die Gitarre über den Schädel haue und sein Kopf oben wieder rausschaut?
„Würde ihm gut stehen!“, sagt Lukas 2.0. „Aber du machst es ja eh nicht.“
„Stimmt leider“, muss ich ihm Recht geben.
„Was brabbelst du da vor dich hin?“, fragt Marvin, der als Ansager am Bühnenrand steht.
„Nichts, ich habe mich nur über die gerissene Saite geärgert.“
„Du musst nicht laut mit mir reden. Sonst wirst du noch in die Irrenanstalt einliefert. Es reicht, wenn du denkst!“, sagt Lukas 2.0.
‚Okay’, denke ich.
„Für heute langt es dir, oder? Soll ich an die Tafel, wenn dich in Mathe die Giftspritze drannimmt?“, fragt mein seltsamer Zwilling.
‚Gerne. Und was mache ich solange?’
„Nichts. Guck einfach mal zu.“
‚Hast du in Mathe überhaupt die Peilung?’, denke ich besorgt.
„Vielleicht geht es gar nicht um Mathe?“
‚Häh? Um was, wenn nicht um Mathe, geht es, wenn man an der Tafel eine Aufgabe rechnen muss?’
„Ich zeige es dir ja gleich.“ Lukas 2.0 strahlt mich mit einem Siegerlächeln an.

6.    Damit hat Frau Peusen nicht gerechnet

Nach der Pause haben wir Mathe. Mein Herz rast und die Handflächen sind feucht. An der Tafel steht noch immer die Aufgabe von gestern.
Frau Peusen sitzt mit verknoteten Beinen auf ihrer üblichen Pultecke.
„Lukas Sander! 679*26! Überschlag, schriftliche Multiplikation, Probe mit der Umkehraufgabe. Zack zack!“
Halleluja, der Mathegeier verliert keine Sekunde, mich zu vernichten.
Plötzlich durchfährt mich ein Ruck, ich bekomme keine Luft mehr, mein Herz rutscht bis zum Knie und wird dann wieder nach oben katapultiert. Mir wird schwindelig und in meinen Ohren pfeift es. Als das Pfeifen nachlässt, höre ich eine vertraute, gleichzeitig aber auch fremde Stimme.
„Zack zack? Jetzt aber mal langsam, liebe Frau Peusen!” Lukas 2.0 schlendert lässig nach vorne. Frau Peusen starrt mit offenem Mund meinen Zwilling an.
„Wie Sie wahrscheinlich wissen, ist meine Mutter Psychologin“, fährt Lukas 2.0 im Plauderton fort. „Haben Sie an der Uni Psychologie studiert? Offenbar nicht. Die Psychologen haben nämlich herausgefunden, dass man nicht denken kann, wenn man Angst hat. Dann schaltet das Gehirn in einen reinen Überlebensmodus: kämpfen oder flüchten.“
„Was, was“, Frau Peusens Mund schnappt im Leerlauf, ohne Töne zu produzieren, „was bildest du dir ein? Du sollst rechnen und keine Vorträge halten“ Die schrille Stimme hat wieder zur trommelfellquälenden Lautstärke zurückgefunden.
„Genau darum geht es. Wie soll ich an der Tafel rechnen, wenn ich Angst habe?“ Lukas 2.0 schaut sie fragend an. Ich winke ihm zu und rufe leise: „Übertreib es nicht! Sonst krieg ich einen Riesenärger!“ Er ignoriert mich.
„Also: Kämpfen oder flüchten kann mein Gehirn unter Stress, aber ich soll doch rechnen. Können Sie unter Stress rechnen?“
„Ich kann immer rechnen“, antwortet Frau Peusen spitz.
„Gut, dann starten wir mal ein kleines Experiment. Wir züchten doch gerade Regenwürmer in der Klasse. Gestern haben sie netterweise erzählt, dass sie die eklig finden. Sogar richtig Angst haben sie vor denen, oder?“
„Und wenn schon, was hat das mit Mathematik zu tun?“

Lukas 2.0 geht zur Zuchtstation und schlägt die Tischdecke zurück, mit der das Aquarium wieder verdeckt werden musste. Breit grinsend angelt er einen besonders langen und fetten Regenwurm heraus.
„Tu den Wurm zurück!“ Frau Peusen sitzt wie versteinert auf dem Pult und schaut angeekelt auf den Wurm, der sich auf der Hand von Lukas 2.0 windet.
„Was hat unser Sanderchen denn gebissen?“, fragt Malte, halb erstaunt, halb bewundernd.
„Nick, ich bin hier. Da vorne, das bin ich nicht!“ Mein Nachbar reagiert nicht.
Ich zwicke ihn in den Arm. Keine Reaktion. Ich kneife fester. Er starrt weiter fassungslos nach vorne. Ja, bin ich denn ein Geist? Was ist bloß hier los?
„Liebe Frau Peusen. Karl, so heißt das süße Würmchen, unterstützt uns freundlicherweise bei einem kleinen Experiment. Karl ist ein sehr reger Regenwurm, und, was die Wenigsten wissen“, Lukas 2.0 senkt die Stimme zu einem Wispern, „Karl ist ein Kampfwurm. Mit seinen rasiermesserscharfen Zähnen ritzt er seinem Opfer die Haut und überträgt ein tödliches Lähmungsgift. Dem Opfer bleibt dann das Herz stehen. Bisher wurde noch kein wirksames Gegengift gefunden.“
„Erzähl doch nicht so ein Quatsch. Karl, der Kampfwurm. Lächerlich!“ Frau Peusen versucht ein überlegenes Lächeln. „Es gibt keine Kampfwürmer! Außerdem haben Regenwürmer keine Zähne!“, sagt sie trotzig.
„OK, ich habe ein bisschen übertrieben. Trotzdem werden Sie gleich mit diesem Wurm kämpfen. Setzen sie sich bitte ans Lehrerpult.“
Zum Erstaunen der ganzen Klasse nimmt Frau Peusen gehorsam Platz.
„Achtung, ich lasse den Wurm frei!“ Er setzt den Regenwurm auf den Schreibtisch. Mit weit aufgerissenen Augen fixiert Frau Peusen den Wurm.
„Kämpfen oder fliehen, sagt in diesem Moment ihr Gehirn. Ich aber sage: Rechnen! Hier ist ein Blatt mit einer netten Gleichung mit drei Unbekannten. Legen Sie los! Sie können doch immer rechnen, oder?“
Lächelnd reicht ihr Lukas 2.0 einen Kuli und das Blatt mit der Rechenaufgabe.
Frau Peusens Blicke wechseln panisch zwischen Wurm und Aufgabe hin und her. Links an ihrem Hals ist als hektischer roter Fleck die Insel Helgoland aufgetaucht, rechts erstreckt sich bis zum Ohr der Umriss Australiens. Sie beginnt zu rechnen, schreibt etwas, streicht es durch, kaut auf dem Kuli, schaut immer wieder in panischer Angst zu dem Regenwurm. Sie drückt so fest mit dem Kuli auf, dass er ein Loch in das Papier reißt.
„Na Frau Peusen, ist in der Aufgabe der Wurm drin?“, fragt Lukas 2.0.
Karl, der Regenwurm nimmt plötzlich Fahrt auf und schlängelt sich auf Frau Peusens Aufgabenblatt zu.
„Der macht nichts, der spielt nur“, sagt Lukas 2.0.
Frau Peusen erstarrt und schreibt nicht mehr. Als der Wurm wenige Zentimeter von ihrem Blatt entfernt ist, springt sie mit einem schrillen Schrei auf, rennt los, stößt auf dem Weg zur Tür den Mülleimer um und knallt die Tür hinter sich zu.
„Aus! Platz!“, befielt Lukas 2.0 mit erhobenem Zeigefinger.
Dann nimmt er den Wurm auf die Hand und streichelt ihn liebevoll.
„Liebe Augenzeugen unseres Experiments. Unsere Versuchsteilnehmerin hatte Stress wegen dieses Würmchens. Ihr Gehirn wollte kämpfen oder fliehen. Ich habe ihr Rechnen vorgeschlagen. Sie hat sich für die Flucht entschieden, was für unsere Vorfahren auch sinnvoll war. Wenn der Säbelzahntiger angegriffen hat, war der Kampf Blödsinn, genauso tödlich wäre es gewesen, dann eine Matheaufgabe zu rechnen. Übrigens, mit dieser Aufgabe…“, Lukas 2.0 öffnet Frau Peusens braunes Ledermäppchen, angelt sich den Rotstift raus und kontrolliert die Lösung der Lehrerin, „… hat sie leider nur eine 6+ verdient! Das wird sie ganz schön wurmen!“
Dann nimmt er den Wurm zwischen Daumen und Zeigefinger, legt den Kopf in den Nacken, reißt den Mund auf und verschluckt ihn.
„Dass so ein süßer Wurm so sauer schmeckt!“, wundert er sich kauend.
Paula findet als Erste die Sprache wieder: „Spinnst du, der arme Wurm?“
Lukas 2.0 grinst und zieht Karl aus dem Ärmel und bringt ihn vorsichtig zur Zuchtstation zurück.
„Der verspeiste Wurm war nur ein saures Würmchen. Billiger Zaubertrick!“
Er strahlt die fassungslose Klasse an. Da ertönt der Gong.

Ich spüre wieder einen Ruck, mein Herz fährt Fahrstuhl, mir wird schwindelig und die Ohren pfeifen. Nick steht neben mir auf, glotzt mich an wie ein Auto und sagt: „Du musst dir ja heute morgen gewaltigst die Birne gestoßen haben! Auf den Schreck muss ich erst mal zum Kiosk.“

7.    Fleisch und Körner?

Völlig geschafft sitze ich nach diesem Vormittag in meinem Trike. Lukas 2.0 steht hinten auf der Achse und strahlt.
„Das war ‘ne coole Nummer, oder?“
„Ja, schon“, antworte ich zögernd. „Der hast du es richtig gezeigt. Aber wenn ich jetzt von der Schule fliege?“
„Papperlapapp! Du fliegst schon nicht. Eher fliegt die blöde Peusen!“
„Jetzt muss ich meinen Eltern erzählen, was du heute Morgen gemacht hast. Total schräg, ich hab doch gar nichts gemacht.“
„Du brauchst nichts erzählen“, Lukas 2.0 winkt ab. „Es gibt Telefone. Wetten, die haben schon von der Heldentat gehört!“
„Und warum hast du mir nicht beim Vorspielen in der Aula geholfen?“, frage ich.
„Ich wollte gucken, ob es ausreicht, wenn ich einfach da bin“, sagt Lukas 2.0.
„Und?“ Fragend schaue ich ihn an.
„Da fragst du noch? Dein Auftritt ging ja mal völlig in die Hose!“ Lukas 2.0 winkt ab.
Ich lasse das Trike ausrollen, weil in der Kurve unser neues Haus auftaucht. Kaum habe ich die Garage geöffnet, reißt mein Vater die Haustür auf. Auch das noch. Er arbeitet heute schon wieder zu Hause.
„Du hast einen Regenwurm aufs Pult gesetzt?“ Seine Stimme überschlägt sich vor Aufregung.
„Stefan, lass ihn doch erst mal reinkommen!“ Meine Mutter steht nun neben ihm.
„Wir besprechen die Sache am Küchentisch!“, kommandiert sie, als ich die Schuhe ausziehe.
Gehorsam schleiche ich in die Küche und lasse mich auf die Küchenbank fallen.
„Jetzt erzähl mal ganz in Ruhe, was du heute Morgen gemacht hast.“ Meine Mutter hat die Sitzung eröffnet.
„Eigentlich war ich das ja gar nicht“, rutscht es mir raus.
„Lukas, du bist keine drei Jahre mehr. Wenn du etwas gemacht hast, solltest du auch dazu stehen.“
„Du hast den Wurm gegessen? Und der Lehrerin Aufgaben gestellt?“, fällt ihr mein Vater ins Wort.
„Stefan, unterbrich mich bitte nicht!“, sagt sie und schaut ihn streng an.
„Wenn ihr mich lasst, erzähle ich ja, was passiert ist.“
Die beiden schauen mich betroffen an und signalisieren mit einem gemeinsamen „OK“, dass sie jetzt zuhören können.

Während ich vom Experiment meines Doppelgängers mit Frau Peusen berichte, klopft der sich zufrieden auf die Schulter. Natürlich muss ich die Geschichte so erzählen, als hätte ich alles gemacht. Als ich geendet habe, herrscht längeres Schweigen.
Meine Mutter bricht die Stille: „Eigentlich hattest du Recht mit deiner Aktion. Diese Frau Peusen schafft kein gutes Lernklima. Wer Angst und Stress hat, kann tatsächlich nicht lernen.“
„Aber muss er denn gleich so auf den Putz hauen?“ Mein Vater haut mit der Faust auf den Tisch.
„Denke lieber über deine Aggressionen nach, Stefan!“
„Hör auf, mich zu therapieren. Ich finde es halt nicht normal, dass mein Sohn seine Mathelehrerin mit schleimigen Würmern aus der Klasse jagt.“
„Sie ist freiwillig rausgerannt, Papa!“
„Du hättest uns schon eher erzählen sollen, dass du vor Frau Peusen Angst hast.“ Mein Vater schaut mich vorwurfsvoll an.
„Ich kenne sie ja erst seit vier Wochen. Und ich dachte, ihr haltet zu ihr.“
„Du bist doch unser Sohn!“ Meine Mutter legt ihre Hand auf meine Schulter.
„Morgen um 14.00 Uhr sind wir zu einem Gespräch beim Rektor vorgeladen. Die Peusen kommt auch“, sagt mein Vater.
„Nicht vorgeladen, Stefan, eingeladen!“, korrigiert meine Mutter.
„Für mich fühlt es sich wie eine Vorladung an. Nebenbei muss ich auch noch ein bisschen arbeiten. Ich habe bis Freitag einen wichtigen Abgabetermin“, jammert mein Vater.
„Vielleicht sollten wir mal was Gutes kochen“, schlägt meine Mutter vor.
„Stimmt, ein Hühnersüppchen könnte meine Nerven beruhigen.“ Voller Vorfreude reibt sich mein Vater den Bauch.
„Stefan hat Recht. Eine Hühnersuppe ist was Feines! Lukas, geh doch mal ein Suppenhuhn kaufen.“
„Müssen wir dauernd tote Tiere essen?“, frage ich vorsichtig.
„Wenn sie noch leben, wehren sie sich immer so gegen das Gegessenwerden“, sagt mein Vater.
„Lass doch die blöden Späße, Stefan!“ Meine Mutter schüttelt empört den Kopf.
„Jetzt mal im Ernst. Ich kann dieses Tierfreund-Weltverbesserungs-Gejammer nicht mehr hören. Du wächst noch und brauchst tierische Nährstoffe, Lukas!“ Zur Bekräftigung haut mein Vater schon wieder auf den Tisch.
„Brauche ich nicht!“, schieße ich zurück. „Es gibt Untersuchungen, dass Vegetariern nichts fehlt!“
„Ja, ja. Und wer hat die Untersuchung in Auftrag gegeben? Der Verband der Sojawursthersteller?“
„Nein, eine Universität hat dazu geforscht!“, sage ich.
„Dann geh doch zu den Biologen von eben dieser Uni und lass dir erklären, dass der Mensch das Gebiss von Allesfressern hat. Also isst er Fleisch und Körner!“ Mein Vater hält seine Zeitung vors Gesicht zum Zeichen, dass die Diskussion beendet ist.
„Von Fleisch werden aber viel weniger Menschen satt. Man muss ja das ganze Tierfutter auch noch anbauen. Der Welt würde es viel besser gehen, wenn alle weniger Fleisch essen würden!“, sage ich.
„Und mir würde es besser gehen, wenn du jetzt dieses dämliche Suppenhuhn holst.“
Er nimmt 10 € aus seiner Brieftasche und knallt sie auf den Tisch.
„Lukas, geh einfach!“ Meine Mutter schiebt mich Richtung Tür.
Auf dem Weg zum Supermarkt frage ich Lukas 2.0: „Isst du eigentlich Fleisch?“
„Das liegt an dir!“
„Versteh ich nicht!“
Er lächelt und sagt:
„Ich bin ich, aber auch du,
du bist ich, lässt du es zu.“
„Also“, überlege ich laut, „wenn ich kein Fleisch esse, dann isst du auch keins?“
„Richtig.“

Inzwischen sind wir an der riesigen Tiefkühltruhe des Supermarkts angekommen. Da spüre ich wieder einen Ruck, mein Herz sackt in den Magen und wird zurückkatapultiert. Mir wird schwindelig, es pfeift in meinen Ohren und ich höre Lukas 2.0 sagen:
„Tote Hühner, tote Enten, Schweinebeine, Kühe in Scheiben geschnitten und…“, er holt eine tiefgefrorene Forelle aus der Truhe und schaut dem Fisch tief in die leblosen Augen „…und diese Frostbeule kann man auch nicht mehr wiederbeleben!“
Er wirft die Forelle in die Tiefkühltruhe zurück. „Jetzt gehe ich ein Suppenhuhn kaufen. Komm mit!“ Er steuert den Ausgang des Supermarktes an.
„Wo willst du hin?“ Ich hechele hinter ihm her.
„Zum Wochenmarkt! Heute ist doch Mittwoch!“

8.    Britta, das Suppenhuhn

Zehn Minuten später donnert er im Stechschritt über den Markt, vorbei an Ständen mit Blumen, Obst, Gemüse, Honig, Backwaren, Fleisch und Wurst. Erst vor einem Stand mit Eiern und lebenden Hühnern bleibt er stehen.
„Legen die Eier?“, fragt er den Verkäufer.
„Ja, was denn sonst? Denkst du, die geben Milch?“
„Taugen die auch als Suppenhuhn?“, fragt mein seltsamer Zwilling weiter.
„Na klar.“
„Dann hätte ich gerne,“ Lukas 2.0 schaut sich um und zeigt auf ein braunes Huhn, „das da.“
„Erlauben deine Eltern, dass du ein lebendes Tier kaufst?“
„Mein Vater war ganz wild darauf, dass ich ein Huhn kaufe!“ Das ist nichts als die reine Wahrheit.
Dem Verkäufer genügt diese Antwort, er schnappt das Huhn und steckt das gackernde Tier in einen Pappkarton mit Luftlöchern. Lukas 2.0 bezahlt, klemmt sich die Kiste unter den Arm und zieht pfeifend los.

Ich stolpere sprachlos hinterher. Als er schon beim Gemüsestand ist, dreht er sich noch mal um und brüllt: „Wie heißt sie eigentlich?“ Dabei zeigt er auf die Pappkiste. Der Hühnerverkäufer zuckt mit den Schultern und ruft zurück: „Keine Ahnung!“
„Lustiger Name!“, brüllt Lukas 2.0 und hebt den Daumen.
„Vielleicht Britta?“, ist das Letzte, was ich vom Hühnermann höre.

Zu Hause marschiert Lukas 2.0 schnurstracks in die Küche, stellt die Kiste auf den Tisch, verbeugt sich und ruft: „Ladies and Gentlemen, darf ich vorstellen: Britta, das Suppenhuhn!“ Aus der Kiste gackert es leise und die Krallen des Huhns kratzen über den Kartonboden.
„Bist du jetzt total verrückt geworden?“ Mein Vater kommt aus seinem Arbeitszimmer gestürzt. „Du solltest ein tiefgefrorenes Suppenhuhn kaufen.“
Lukas 2.0 öffnet den Deckel der Pappkiste und schaut erstaunt. „Frechheit! Erst tut sie so cool, dann taut sie unterwegs auf!“
„Wenn du glaubst, du könntest mit mir so Spielchen treiben wie mit der Peusen, dann hast du dich geschnitten!“ Die Gesichtsfarbe meines Vaters hat von leichenblass zu ketchuprot gewechselt.

Seitdem Brittas Karton auf dem Küchentisch steht, ist meine Mutter sprachlos. Das kommt auch selten vor.
„Du gehst jetzt sofort los und holst das Suppenhuhn!“, brüllt mein Vater.
„Nicht nötig“, sagt Lukas 2.0 sanft. „Ich habe im Garten schon den Hackklotz und das Beil vorbereitet. Du musst Britta nur noch den Kopf abschlagen, dann kann sie in die Suppe.“
„Wieso soll ich dem Huhn den Kopf abhacken?“, ruft mein Vater empört.
Du willst schließlich Britta essen. Und lebendig wehren sie sich ja immer so.“
„Ich will das Huhn essen, ihm aber nicht den Kopf abhacken.“
„Wieso? Du hast doch das Gebiss eines Allesfressers. Dann wirst du wohl auch einen Hühnerkopf abhacken und Britta rupfen können.“
„Kann ich nicht. Wir leben nicht mehr in der Steinzeit, sondern in einer arbeitsteiligen Gesellschaft.“
„Das ist vielleicht der Fehler“, sagt Lukas 2.0 und holt das Huhn aus der Pappkiste. „Schau ihr tief in die Hühneraugen, bevor du sie einen Kopf kürzer machst.“
Britta läuft jetzt neugierig Richtung Wohnzimmer, wackelt bei jedem Schritt ruckartig mit dem Kopf und pickt zufrieden in den Teppich. Dann flattert sie auf einen Stuhl, von dort auf den Wohnzimmertisch und pickt an der Obstschale.
„Raus mit dem Vieh!“, brüllt mein Vater. „Das ist ein Wohnzimmer und kein Hühnerstall.“
Meine Mutter hat das Spektakel interessiert verfolgt.
„Und was essen wir jetzt?“, fragt sie.
„Nudeln mit Pesto“, grummelt mein Vater, rennt in sein Arbeitszimmer und knallt die Tür hinter sich zu.
Lukas 2.0 scheucht Britta hinter den Esstisch, greift beherzt zu und steckt das flatternde Federvieh in die Pappkiste zurück. Er bringt Britta in den Garten, ich folge ihm.
„Wollen wir ein Gehege bauen und sie zum Eierlegen halten?“, fragt er mich strahlend.
„Lass mal gut sein“, antworte ich. „Sonst kollabiert mein Vater noch. Wir bringen Britta lieber zum Markt zurück.“

Da spüre ich mein Herz einen Salto schlagen, der Schwindel kommt und geht und es pfeift in meinen Ohren.
„Bin ich jetzt wieder dran?“, frage ich Lukas 2.0.
„Du hast es kapiert!“, antwortet er.
„Alles klar. Dann bringe ich erst mal Britta zurück!“
Abends liege ich zufrieden in meinem Bett. Lukas 2.0 liegt neben mir. Er sieht ein bisschen blass aus, streckt aber grinsend beide Daumen in die Höhe.
„Der blöden Peusen haben wir’s heute aber gegeben!“
„Kannst du laut sagen! Ich kann immer rechnen! Pah! Und wie sie den Papierkorb abgeräumt hat! Großes Kino!“ Lukas 2.0 strahlt.
„Und die Nummer mit Britta und meinen Eltern war auch bretthammerfett. Ich weiß gar nicht, wer wen doofer angeguckt hat: Britta meinen Vater oder andersrum!“ Ich lache mich noch immer schlapp, wenn ich nur daran denke.
„Kannst du es morgen mal Malte aus der Gletscherspalte so richtig zeigen?“, frage ich.
„Nein, kann ich nicht.“
„Was? Wieso nicht? Meinst du, der lässt mich nach der Peusen-Aktion in Ruhe?“
„Nein, der nervt dich schön weiter.“
„Aber dann mach doch was gegen das Ekelpaket!“, dränge ich meinen Doppelgänger.
„Geht gerade nicht. Dein Angstlevel ist nicht bei 100.“
„Was?“
„Das sind die Spielregeln. Ich habe sie mir nicht ausgedacht“, sagt Lukas 2.0 entschuldigend.
„Welche Spielregeln?“ Mein Plan war eigentlich, dass ab jetzt immer Lukas 2.0 einspringt, wenn es brenzlig wird und ich Angst kriege. Wie ein Stuntman. Jetzt lässt mich mein Stuntman in der abstürzenden Maschine schon wieder alleine.
„Bleib mal locker. Ich bin ja noch da!“ Lukas 2.0 lächelt mich beruhigend an. „Fällt dir auf, dass ich blasser bin als heute Morgen?“
„Ja, schon. Und was bedeutet das?“
„Dass ich nichts für dich tun kann. Wenn dein Angst-Level bei 100 ist, sind meine Farben knallig. Dann kann ich loslegen.“
„Was ist mein Angstlevel?“
„Stell es dir vor wie die Ladestandsanzeige eines Akkus. Immer wenn du Angst verspürst, geht die Anzeige ein bisschen nach oben. Und wenn sie bei 100 ist, kann ich für dich handeln. Allerdings geht dein Angstlevel dadurch wieder runter.“
„Langsam, langsam“, sage ich. „Mein Angstlevel war bei 100. Dann hast du Frau Peusen mit dem Wurm rechnen lassen und meinem Vater Britta vorgesetzt. Und dadurch ist mein Angstlevel gesunken?“
„Richtig.“
„Aber warum?“, frage ich.
„Weil du was Mutiges gemacht hast. Ich bin ich, aber auch du…“
„Wer entscheidet, ob du für mich handelst?“, frage ich meinen Doppelgänger.
„Na, ich natürlich.“ Lukas 2.0 grinst breit. „Ich habe ja auch entschieden, dass du mich heute das erste Mal sehen durftest, obwohl dein Angstlevel schon jahrelang bei 100 war.“
„Und warum erst jetzt, wenn ich schon immer bei 100 war?“
„Ich hatte die Hoffnung nie aufgegeben. Ich dachte, du schaffst es vielleicht auch ohne mich. Aber nachdem Malte dich beim Handyversenken beobachtet hat, war mir klar: Das ist ein Fall für Lukas 2.0!“
„Und morgen früh kannst du nicht mit Malte weitermachen?“
„Tut mir echt leid, aber: Es geht nicht.“
„Aber ich habe auch öfter mal Albträume!“
„Trotzdem, damit klettert dein Angstlevel zwar ein bisschen, aber nicht sofort auf 100!“, nimmt mir Lukas 2.0 die Hoffnung.
Mir brummt der Kopf. Ich muss jetzt erst mal schlafen.
„Schläfst du eigentlich auch?“, frage ich den anderen Lukas.
„Wenn du schläfst, schlafe ich auch.“
„Und hast du auch Angst, wenn ich Angst habe?“
„Nein, meistens nicht. Ich bin doch deine Weiterentwicklung.“
„Und wie machst du das, keine Angst zu haben?“
„Ich überlege einfach: Was ist das Schlimmste, was passieren kann?“
„Versteh ich nicht“, sage ich gähnend.
„Was kann schlimmstenfalls passieren, wenn du dich beim Aulatreff verspielst?“ Er schaut mich an und antwortet dann selbst: „Man könnte denken, dass du eine Niete auf der Gitarre bist. Und weiter?“
„Alle könnten mich auslachen!“, wende ich ein.
„Dann lach zurück. Und was kann passieren, wenn du dich bei der Peusen an der Tafel verrechnest? Du kriegst eine schlechte Note. Weil du aber in Deutsch gut bist, bleibst du sowieso nicht sitzen. Also: Wo ist das Problem?“
„FürmichiseshaltnProblem“, murmele ich und sinke in einen unruhigen Schlaf.

9.    Albträume

Ich fahre in die Schule. Hinten auf meinem Trike steht nicht nur Lukas 2.0, sondern auch Lukas 3.0 bis hin zu Lukas 99.0, alle auf den Schultern ihrer Vorgängerversion sitzend. Der Turm mit Lukassen ragt bis in den Himmel.
„Zieht bei der Unterführung die Köpfe ein!“, rufe ich nach oben.
„Wir ziehen nie den Kopf ein. ‚Brust raus’ ist unser Motto!“, brüllen 98 Lukasse zurück.
Bei der Unterführung bleibt Lukas 2.0 stehen, die anderen 97 Versionen, Updates und Weiterentwicklungen katapultieren sich nach oben, drehen übermütige Loopings und landen zielsicher nach der Unterführung auf den Schultern ihres Vorgängers.
In der Schule schwärmen die Lukasse aus, jeder hat plötzlich einen Regenwurm an der Leine. Lukas 2.0 steckt Malte in die Mülltonne, Version 3.0 hängt Frau Peusen aus dem Fenster, Lukas 4.0 spielt beim Aulatreff Gitarre wie ein Rockstar, Version 5.0 lässt meinen Vater Britta schlachten.
Plötzlich halten alle Lukasse inne und brüllen: „Verdammt, wo ist deine Angst?“
„Wieso, ich soll doch keine Angst mehr haben?“, frage ich irritiert.
„Ja, aber ohne ein 100’er Level können wir nichts mehr für dich tun!“
Meine Klone lösen sich in Luft auf und ich stehe plötzlich ganz verlassen auf der Bühne.
Alle Schüler, Lehrer und Eltern sind da und zeigen mit dem Finger auf mich. Sie lachen sich kringelig, als Britta auf meinem Kopf landet und gackernd ein Ei legt. Das Ei fliegt in Zeitlupe zu Boden, zermatscht auf dem Boden zu Rührei und reißt dann das ganze Schulhaus mit einer riesigen Explosion in Schutt und Asche. Die sich auftürmende Staubwolke hat die Form eines Huhns und schlägt gackernd mit den Flügeln. „Mach deine Entspannungsübungen, Lukas!“, gackert das Staubwolkenhuhn und verwandelt sich in eine riesige Frau Peusen. „Runden, musst du! Runden! Ruuuuuuundeeeen!!!“
„Beruhigen Sie sich“, sagt mein Vater zu dem Staubwolkenhuhn, „dann ziehen wir einfach wieder um.“
„Ich will nie mehr umziehen!“, brülle ich.

 

Schweißgebadet schrecke ich hoch. Der Schlafanzug klebt an mir. Draußen zwitschern die Vögel schon wie wild, meine Raketenuhr sagt 5 Uhr 13. Ich kann nicht mehr einschlafen. Völlig fertig von dieser Achterbahnfahrt durch mein Albtraumland sitze ich später am Küchentisch und löffele gähnend meine Frühstücksflocken.
„Rede heute mit deiner Lehrerin, bevor du wieder so dramatische Auftritte inszenierst!“, ermahnt mich meine Mutter.
„Ja, ja“, sage ich resignierend mit Blick auf den blassen Lukas 2.0. So einen Auftritt wie gestern bekomme ich heute leider gar nicht hin. Aber das weiß ja meine Mutter nicht.
„Wir sehen uns um 14.00 Uhr bei Herrn Haase.“ Meine Mutter steht winkend in der Tür. Bei dem Gedanken an das Gespräch beim Schulleiter verkrampft sich mein Magen und Lukas 2.0 gewinnt ein wenig an Farbe. Bilde ich mir wenigstens ein.
Danach steht er recht schweigsam hinten auf meinem Trike und lässt sich in die Schule fahren.
Als ich ankomme, wartet Malte bereits am Fahrradständer.
Mist. Ich schaue mich noch mal um. Lukas 2.0 ist noch ganz blass. „Tut mir leid!“, sagt er kopfschüttelnd.
Meine Hände werden feucht und meine Knie zittern, als ich aussteige.
„Hallo, hier ist dein Säbelzahntiger!“, begrüßt mich Malte.
„Aber du sollst weder kämpfen noch fliehen, sondern“, er macht eine theatralische Pause und lässt sein Schloss um meinen Vorderreifen zuschnappen, „du sollst zahlen!“
Er schenkt mir ein fieses Lächeln.
„Parkgebühr: 1 € täglich! Gestern hast du nicht gezahlt, also heute 2 €!“ Er hält die Hand auf.
Mein Magen verklumpt. Vor Angst und Wut bin ich sprachlos.
„Wenn du nicht zahlst, erzähle ich gleich in der ersten Stunde, wo dein Gurkenhandy ist.“
Zerknirscht hole ich die 2 € aus der Hosentasche, die ich mir nach Maltes gestriger Drohung vorsorglich eingesteckt habe.
„Freu dich doch. Morgen musst du nur die Hälfte für deinen Parkplatz zahlen!“ Malte bückt sich zu meinem Vorderreifen, öffnet das Schloss und zieht grinsend ab.
Nick kommt in seinem Schneckentempo angeradelt und fädelt in Zeitlupe im Fahrradständer ein.
„Und, was haben deine Eltern zur Aktion mit Karl, dem Kampfwurm, gesagt?“, fragt er mich.
„Na ja, um ehrlich zu sein: Es ist nicht bei dem Wurm geblieben. Britta kam auch noch ins Spiel!“
„Britta? Wer ist Britta?“ Nick glotzt mich verständnislos an.
„Ein Suppenhuhn. Mein Vater wollte, dass ich ein Suppenhuhn kaufe. Ich bin dann aber zum Markt und habe ein lebendes Huhn gekauft.“
„Jetzt mal ehrlich, Lukas: Hast du Fieber?“
„Nein, ich bin nicht krank. Ich habe mich nur ein bisschen weiterentwickelt.“
Lukas 2.0 lacht schallend. Leider sieht er noch ganz schön blass aus.

10.Beim Rektor

In der ersten Stunde haben wir Mathe. Frau Peusen schleicht in die Klasse, murmelt ein ‚Guten Morgen’ und schreibt Buch, S. 107, Nr. 1-6 an die Tafel. Dann verschanzt sie sich hinter dem Pult und sitzt mit verknoteten Beinen auf dem Stuhl. In der Klasse ist es totenstill. Sie würdigt mich keines Blickes.
Die Nummer 1 bekomme ich gerade noch hin, aber Nummer 2 ist eine Textaufgabe. Ich soll die Wochenendeinnahme eines Supermarktes berechnen und danach die durchschnittliche Tageseinnahme. Halleluja, so eine Menge Geld. Vielleicht werde ich später Supermarktbesitzer und stelle mir einen Mathematiker ein, der mir abends ausrechnet, wie viel Kohle ich verdient habe. Aber noch gibt es keinen, der für mich rechnet. Soll ich die Peusen fragen, ob sie mir die Nummer 2 erklärt? Ich traue mich nicht. Auch wenn sie heute gar nichts sagt, erwarte ich doch jeden Moment ihre schneidende Stimme: „Lukas Sander, geh doch mal an die Tafel!“
Aber sie bleibt stumm. Frau Peusen sitzt einfach hinter ihrem Pult und blättert gelangweilt im Mathebuch.
„Nick, kannst du mir die zweite Aufgabe erklären?“, flüstere ich.
„Logo. Du musst die Einnahmen von Freitag, Samstag und Sonntag zusammenrechnen und dann durch drei teilen.“
„Hätte ich eigentlich auch gemacht“, sage ich erstaunt. „Auch wenn ich mich frage, seit wann der Freitag zum Wochenende gehört.“
„Und warum machst du es dann nicht?“, fragt Nick.
„Weil ich in Mathe sowieso immer alles falsch mache.“
Die Peusen lugt über ihr Mathebuch, sagt aber nichts, obwohl wir schwätzen. Komisch.
„Rechne mal und dann kannst du mit meinen Ergebnissen vergleichen. Und die stimmen immer!“ Strahlend tätschelt er seine Uhr.
Die Plusaufgabe bekomme ich hin, aber beim schriftlichen Teilen mit dieser komischen Treppe komme ich wieder durcheinander.
„Nick, wie geht teilen?“
„Solange ich nicht mein Frühstück mit dir teilen muss, erkläre ich’s dir gerne.“
Er nimmt ein kariertes Blatt von seinem Block und erklärt mir schriftliches Teilen. Wenn man mal kapiert hat, dass man hinten hinschreibt, wie oft die Zahl reingeht, und unter die Zahl, wie viel man verteilen konnte, ist die Sache gar nicht so schwer. Dann Minus rechnen, eine Zahl runterholen, und das Spiel von vorne. Die Peusen schaut auffällig unauffällig zu uns, lässt uns aber gewähren.
Als ich dann die Tageseinnahmen durch 3 teile, komme ich auf das gleiche Ergebnis wie Nick.
„Na also!“, sagt Lukas 2.0 und applaudiert.
„Wieso bist du nicht mehr so blass?“, denke ich. „Ich habe doch richtig gerechnet.“
„Du hattest aber die ganze Zeit Schiss, dass die Peusen dich an die Tafel ruft oder irgendeine Racheaktion für gestern startet.“
„Stimmt“, muss ich zugegeben. „Ich traue dem Frieden nicht. Mal schauen, was nachher beim Rektor passiert.“

Punkt 14.00 Uhr glubschen mich vier Augenpaare an. Frau Peusen hat Helgoland am Hals und rutscht nervös auf ihrem Stuhl herum. Als säße sie auf einer heißen Herdplatte. Wieso ist die eigentlich nervös? Mein Vater zieht die rechte Augenbraue hoch und meine Mutter krempelt ihre Ärmel auf. Vorbereitungen für einen Boxkampf? Mein Magen klumpt. Ich muss würgen.
„Lukas, erzähl doch mal aus deiner Sicht, was gestern in der Mathestunde passiert ist!“, beginnt Herr Haase.
Tolle Wurst, die Strategie ist durchschaubar wie Plexiglas. Erst Verständnis heucheln und dann in die Pfanne hauen.
„So wie du es uns gestern Mittag erzählt hast!“, sagt meine Mutter.
„Ihr Sohn ist dran!“ Herr Haase schaut meine Mutter streng über den Rand seiner Brille an.
„Ich wollte ihn nur unterstützen!“, verteidigt sich meine Mutter.
„Er schafft das bestimmt alleine!“, sagt der Rektor.
„Ich als Lukas Mutter…“
„Herr im Himmel“, donnert da mein Vater dazwischen, „wenn er eine Frage gestellt bekommt, lasst sie ihn doch auch beantworten!“
Betretenes Schweigen. Jetzt muss ich wohl was sagen.
„Nämlich, ich, ich kann nicht so gut Mathe“, stammle ich.
„Wie wahr!“, rutscht es der Peusen raus.
„Sie sind noch nicht dran!“, tadelt Herr Haase seine Kollegin.
„Entschuldige bitte“, sagt er in meine Richtung. „Fahr fort!“
„Und deshalb habe ich Angst, an der Tafel zu rechnen. Ich hasse es, wenn mich alle angucken. Dann kann ich nicht mehr denken. Das war auch schon in der alten Schule so.“
„Und was würdest du dir wünschen, damit du in Mathe weniger Angst haben musst?“, fragt mich der Rektor.
„Hmm, ich gehe nur noch freiwillig an die Tafel und Nick erklärt mir im Unterricht Aufgaben, die ich nicht verstehe“, überlege ich halblaut.
„Frau Peusen, können Sie das umsetzen?“ Die Frage von Herrn Haase klingt mehr nach einem Befehl.
Meine verknotete Mathelehrerin nickt eifrig.
„Lukas, es ist gut, wenn du uns sagst, wie es dir geht. Mit dem Regenwurm bist du aber über das Ziel hinausgeschossen!“ Herr Haase schaut mich strenger an.
Jetzt kommt’s. Er schmeißt mich doch noch von der Schule. Obwohl, dann müsste ich nicht beim Aulatreff vorspielen. Auch nicht schlecht. Aber wer weiß, wo ich dann lande.
„Wir Lehrer gehen respektvoll mit euch Schülern um“, dabei schaut er Frau Peusen tief in die Augen, „und ihr Schüler geht respektvoll mit den Lehrern um.“ „Deine Zirkusnummer mit dem Wurm war weder der Lehrerin noch dem Tier gegenüber respektvoll. Deshalb hilfst du dem Hausmeister eine Woche lang nach Unterrichtsschluss beim Säubern des Schulhofes. Damit ist der Vorfall von schulischer Seite aus erledigt!“

„Gar nicht so verkehrt, dein Rektor!“, sagt meine Mutter, als wir nach dem Gespräch draußen auf dem Schulhof stehen.
„Der rote Fleck am Hals von der Peusen hat mich an Helgoland erinnert“, sagt mein Vater.
Ich schaue ihn überrascht an, dann kriege ich einen Lachkrampf. Lukas 2.0, der bei diesem Gespräch weiter an Farbe gewonnen hat, haut sich begeistert auf den Schenkel.

11.Vorspiel, Version 1.0

„Wir müssen uns beeilen, Gitarrenunterricht bei Herrn Janikowsky!“ Meine Mutter treibt mich Richtung Auto.
Oh nein. Das Hochgefühl verfliegt.
„Ich lauf dann schon mal heim und arbeite weiter!“, verabschiedet sich mein Vater.
Meine Mutter startet den Motor und fährt mich zum Gitarrenunterricht. Der neue Gitarrenlehrer ist mindestens so schlimm wie ein Zahnarztbesuch.
Widerwillig steige ich aus, meine Mutter drückt mir die Gitarre in die Hand.
Ich klingele. Der Unterricht findet bei Herrn Janikowsky zu Hause statt. Er sitzt schon im Unterrichtszimmer und zupft mit geschlossenen Augen seine ewigen Fingerläufe. Wie immer trägt er Wollsocken, seine fettigen, langen Haare schaukeln im Takt der Musik wie ein Vorhang vor seinem blassen Gesicht.
„Hast du geübt?“, fragt er, noch mit geschlossenen Augen.
„Na ja, ein, ein bisschen“, stottere ich. „Es ist gerade viel los bei mir.“
„Ein bisschen gibt es nicht. Es gibt auch nicht ein bisschen schwanger. Spiel vor!“
Mit feuchten Fingern lege ich meine Noten auf den Ständer. Die gestern gerissene D-Saite hat mein Vater ersetzt, die neue hält aber noch nicht den Ton und klingt zu tief.
„Erst stimmen, dann spielen!“, faucht Janikowsky.
„Bei dem stimmt’s aber auch nicht“, sagt Lukas 2.0.
Ich muss grinsen.
„Grins nicht. Spiel lieber!“ Er kann also durch seinen Vorhang durchgucken.
Jetzt zittern mir die Finger und ich treffe mit der linken Hand nicht die richtigen Bünde und mit der rechten Hand zupfe ich die falschen Saiten.
„Ein bisschen geübt?“ Janikowsky schüttelt den Kopf. „Gar nicht geübt hast du!“
„Doch, ein bisschen habe ich geübt.“
„Davon merke ich aber nichts. Willst du überhaupt Gitarre lernen? Dann musst du täglich üben.“ Er hebt den Zeigefinger und starrt mich erwartungsvoll an.
„Du hast meine Frage noch nicht beantwortet: Willst du Gitarre lernen?“
„Na ja, ich würde gerne E-Gitarre spielen. Und nicht so alte Volkslieder oder Tonleitern.“
„Papperlapapp, E-Gitarre, Krach- und Höllenmusik! Ohne Ausbildung an der klassischen Gitarre bleibst du immer ein Stümper. Und jetzt spiel!“
Während ich die Tonleiter hoch und runter zupfe, leuchtet Lukas 2.0 in grellen Farben.
‚Machst du was gegen ihn?’, denke ich.
„Nein, guck mal auf die Uhr“, winkt Lukas 2.0 ab.
„Du kannst jetzt gehen“, sagt Janikowsky.“ Und wenn du nicht jeden Tag übst, wird aus dir nie ein Gitarrist!“
„Wie war der Unterricht?“, fragt mein Vater beim Abendessen.
„Ach, die ewigen Tonleitern, das nervt“, sage ich.
„Der Mann hat eine abgeschlossene Ausbildung am Konservatorium und ist hoffentlich jeden der vielen Euros wert, die er monatlich haben will.“ Vorwurfsvoll reibt mein Vater den Zeigefinger am Daumen.
Müde bin ich nach diesem Tag. Erst Mathe bei der Peusen, dann das Gespräch beim Rektor, danach den fettigen Tonleiter-Janikowsky. „Ich übe noch mal das Stück für den Aulatreff!“, sage ich gähnend, schnappe die Gitarre und gehe in mein Zimmer.

Und endlich ist der letzte Schultag da. Eigentlich freue ich mich auf die Osterferien. Wäre da nicht der blöde Aulatreff.
„Jetzt hört ihr Lukas Sander mit: Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt.“ Marvin verbeugt sich vor dem Publikum und präsentiert mich mit der Geste eines Fernsehmoderators. Immerhin hat er „Rösslein“ und nicht „Röslein“ gesagt. Ein Stuhl steht einsam in der Bühnenmitte, davor ein dürrer Notenständer. Ich will mich hinter dem Notenständer verschanzen, er bietet aber keinen Schutz. Ich fühle mich völlig nackt. Der Scheinwerfer blendet. Meine Finger zittern, als ich die Noten auf den Ständer lege.

„Du schaffst das!“, raunt mir Nick zu.
Der hat gut reden, da unten im Schutz der Dunkelheit. Hilfesuchend sehe ich mich nach Lukas 2.0 um. Unbeteiligt steht er am Bühnenrand und leuchtet grell.
‚Springst du für mich ein? Ich kann gerade höchstens fliehen oder kämpfen, aber nicht Gitarre spielen’, denke ich.
„Wieso ich? Das ist doch dein Auftritt!“ Lukas 2.0 deutet mit dem Zeigefinger auf mich.
‚Aber mein Angstlevel ist garantiert bei 200!’
„Kann sein. Aber erinnerst du dich, wer entscheidet, ob ich einspringe?“ Lukas 2.0 grinst selbstgefällig.
Meine Angst weicht jetzt einer Riesenwut. Stinksauer bin ich. Na toll, wenn er Lust hat, reißt er die Riesenshow, wenn ich ihn brauche, lässt er mich total im Stich.
Ich sehe die Umrisse von vielen Leuten, große und kleine zappelige. Viele Eltern sind da, natürlich auch meine. Sie wollen mich bei meinem Auftritt unterstützen, haben sie gesagt. Vielleicht haben sie aber auch nur Angst, dass ich wieder auf die Tonne haue und sie erneut zum Rektor zitiert werden.
Das Publikum wird unruhig. Die ersten murmeln, andere zischen ihnen daraufhin ein „Pscht“ zu.
„Spiel einfach, Lukas“, höre ich da meine Mutter. „Du kannst das.“
Supertipp, herzlichen Glückwunsch.
„Hau rein, Lukas!“, ruft da mein Vater.
Lukas 2.0 schaut unbeteiligt zur Seite. Gleich platze ich vor Wut auf ihn. Ich hole tief Luft, greife die D-Saite, lasse die Begleitakkorde und die Bassläufe weg und reiße nur die Melodie in neuer Rekordzeit runter.
Dann flüchte ich von der Bühne, alle applaudieren höflich, sind wohl froh, dass es rum ist.
Ich bin schweißgebadet, mir ist heiß und kalt.
Endlich sitze ich im rettenden Halbdunkel neben Nick. Jetzt sollen sich andere zum Affen machen.
„Wenn dein Bauer im März so schnell ist, kann er im April schon ernten“, sagt Nick grinsend.
„Halt die Klappe!“ Erleichtert boxe ich ihm in sein Gerippe.
Laura sagt ein Frühlingsgedicht von Goethe auf, Jean Michel spielt ein Mozart-Stück auf dem Klavier und Malte lässt sich für sein Brake-Dance-Gezappel feiern. Bei den Schülern der anderen Klasse schaue ich gar nicht richtig zu. Ich kann nicht, weil ich noch stinksauer bin. Dann werden wir vom Rektor in die Ferien entlassen.

„Das war mutig von dir!“ Wir stehen auf dem Schulhof und mein Vater nimmt mich in die Arme. „Zur Feier des Tages gehen wir heute Mittag in die Pizzeria!“
Dann sitze ich in meinem Trike und gönne mir eine Buttermilch.
„Ich dachte, du bist mein Freund!“, platzt es aus mir heraus.
„Bin ich doch auch!“, sagt Lukas 2.0.
„Und warum lässt du mich dann so im Stich?“
„Ich habe dich nicht im Stich gelassen.“
„Was du nicht sagst. Und warum hast du dann nicht für mich gespielt?“
„Ich habe dich wütend gemacht. Dadurch hattest du die Kraft, das Stück selbst zu spielen. Und ich habe dir gezeigt, dass die Welt nicht untergeht, egal was passiert.“ Lukas 2.0 hebt beschwichtigend die Hände.
„Hm, schöne Worte. Ich habe mir deine Hilfe jedenfalls ganz anders vorgestellt!“, fauche ich.
Lukas 2.0 steigt auf die Stoßstange des Trikes und hüllt sich in Schweigen.

12.Herr Janikowsky erleidet eine Innenohrzerrung

Endlich sind sie da, die Osterferien. Auch die Vögel zwitschern wie bekloppt vor Freude. Meine Weckerrakete bleibt für zwei Wochen mit Startverbot am Boden. Nach langen, kalten Monaten kann der Pulli im Schrank bleiben und abends ist es länger hell. Das Leben hat mich wieder in seine Gästeliste eingetragen.
Und das Allerschönste: Malte ist mit seiner Mutter für zwei Wochen auf Mallorca. Zur Mandelblüte, hat er gesagt. Seit wann interessiert sich Spalten-Malte für eine Mandelblüte? Auch egal, dann muss ich den Erpresser hier nicht ertragen. Die blöde Peusen sehe ich natürlich auch zwei Wochen nicht. Ich sitze am Frühstückstisch und lächele vor mich hin.
„Denkst du ans Gitarre üben?“ Mit einem Satz lässt meine Mutter die rosarote Ferienseifenblase platzen.
Gitarre! Unterricht! Janikowsky! Mist, das läuft auch in den Schulferien weiter. Es langt nicht, wenn Malte wegfliegt und ich Frau Peusen zwei Wochen nicht sehe: Der blöde Janikowsky müsste für mein perfektes Ferienglück auch noch verreisen.
„Träumst du? Ob du geübt hast, will ich wissen“, bohrt meine Mutter weiter.
„Ein bisschen“, murmele ich.
„Ein bisschen ist zu wenig.“ Meine Mutter hört sich an wie Janikowsky. „Dann setze dich heute vor dem Unterricht noch mal eine Stunde dran!“
Nach dem Frühstück sitze ich mit meiner Gitarre, einem Bauern, der immer noch die Rösslein einspannt, obwohl es schon lange Traktoren gibt, und einer extrem miesen Laune in meinem Zimmer.
„Die Ferien hätten ja beinahe schön angefangen“, schimpfe ich und ziehe an der D-Saite.
„Ich gehe heute für dich zum Gitarrenunterricht“, sagt Lukas 2.0.
„Ach ja, auf einmal kannst du also wieder?“
„Hör auf, die beleidigte Leberwurst zu spielen. Irgendwann wirst du alles kapieren.“
„Was hast du vor beim Janikowsky?“
„Lass mich mal machen. Ich muss nur noch was besorgen.“
„Aber du machst keinen Scheiß? So was wie ihm die Gitarre über die Birne braten?“
„Ich bin ich, aber auch du: Denk dran! Für wie primitiv hältst du dich eigentlich?“ Lukas 2.0 schaut mich vorwurfsvoll an.
„OK. Von mir aus gehst du heute zum Janikowsky. Aber ich möchte danach dem Mann noch in die Augen gucken können.“
„Musst du nicht. Er wird dich zum E-Gitarrenunterricht schicken und deinen Unterrichtsvertrag kündigen.“
Jetzt fällt mir nichts mehr ein. Da schüttelt es mich, mein Herz stürzt Richtung Fußzehen und wird direkt nach der Ankunft zum angestammten Platz zurückkatapultiert. Mir wird schwindelig und das ohrenbetäubende Pfeifen zerreißt mir fast das Trommelfell.
„Auf geht’s!“ Lukas 2.0 grinst mich an und stürmt im Stechschritt aus dem Haus.
„Du hast die Gitarre vergessen!“, sage ich.
„Als ob. Jetzt hole ich eine richtige Gitarre.“
Er steigt in mein Trike, ich springe auf die Stoßstange und schon düst er gegen die Einbahnstraße los.
„Das ist eine Einbahnstraße!“, rufe ich.
„Was? Eine Eisbahnstraße?“, brüllt er zurück. Will der mich auf den Arm nehmen?
„Eine Einbahnstraße. Du darfst nur in eine Richtung fahren!“
„Tu ich doch!“
Eigentlich sollte ich wütend auf ihn bin, aber ich muss grinsen.

Lukas 2.0 tritt mächtig in die Pedale und donnert Richtung Innenstadt. Mit einer Vollbremsung stoppt er vor dem Musikgeschäft und reibt dabei ordentlich Gummi auf den Asphalt.
Kurz darauf kommt er mit einer E-Gitarre und einem Verstärker aus dem Laden.
„Keine Angst, ich hab’s nur ausgeliehen.“ Er schnallt die Gitarre außen an die Fahrerkabine und stellt den Verstärker an die Stelle, wo sonst der Schulranzen steht. Weiter geht die Höllenfahrt. Nach fünf Minuten stoppt er am Ziel und drückt grinsend die Klingel.
„Ja, bitte?“, krächzt es durch die Sprechanlage.
„Hallöchen, Herr Janikowsky. Lukas ist hier!“
Es summt, Lukas 2.0 drückt die Tür auf und schleppt den Gitarrenkoffer und den großen schwarzen Würfel in die Wohnung.
Der Gitarrenlehrer sitzt bereits in Position, den linken, in einer löchrigen Wollsocke verpackten Fuß auf dem Bänkchen, das ewig gleiche Flanellhemd um den abgemagerten Körper. Er wiegt den Kopf mit den fettigen Franselhaaren und zupft mit vor Verzückung geschlossenen Augen Fingerläufe.
„Hast du geübt?“, fragt er, ohne die Augen zu öffnen.
„Jo!“ Lukas 2.0 öffnet den Koffer, holt eine neongrüne E-Gitarre raus und verkabelt sie mit dem großen, schwarzen Würfel. Dann steckt er das Stromkabel des Verstärkers in die Steckdose. Es knackt und kracht. Mit einer pfeifenden Rückkopplung meldet sich der Verstärker einsatzbereit.
Herr Janikowsky reißt entsetzt die Augen auf. Ich mache voll Vorfreude ebenso große Augen.
„Ich spiel dann mal vor!“ Lukas 2.0 legt die Noten auf den Ständer und dreht den Verstärker bis zum Anschlag auf.
„Was, was,“ stottert Janikowsky, „was soll der Unfug?“
Zehnmal lauter und zehnmal schneller als sonst lässt Lukas 2.0 nun im Märzen eine ganze Herde anspannen und über alle Prärien des Wilden Westens donnern. Herr Janikowsky erstarrt zur Salzsäure, sein Unterkiefer klappt tonlos hoch und runter, hoch und runter.
„Genug! Schluss mit dem Höllenlärm!“, ruft er, als sein Kauwerkzeug endlich den Leerlaufmodus überwunden hat.
Lukas 2.0 hört ihn nicht, vielleicht will er ihn auch nicht hören, und spielt einfach weiter. Im Märzen der Bauer hat er längst hinter sich gelassen und ist nun bei „Burn it down“ von Linkin Park angekommen.
Janikowsky versucht den Verstärker zu erreichen, um den ohrenbetäubenden Lärm abdrehen zu können. Aber sobald er sich auf Armeslänge der Box nähert, lässt Lukas 2.0 die Gitarre mit dem Verzerrer heulen und jaulen, dass der zarte Musiklehrer wie von einem Kinnhaken weggeschleudert wird. Janikowsky sieht nur noch einen Ausweg: Der Netzstecker muss aus der Dose. Doch der Zugang zum ruhebringenden Stecker ist vom Verstärker blockiert. Janikowsky hält sich die empfindlichen und gerade so arg geplagten Ohren zu und will hinter die Box. Lukas 2.0 durchschaut Janikowskys Absicht und springt auf den Verstärker. Dort dreht er sich mit der jaulenden Gitarre wie ein Irrer im Kreis, um seinen Lehrer von der Steckdose fernzuhalten. Schreiend und mit hochrotem Gesicht rennt Janikowsky aus dem Zimmer.
Kurz darauf ist nur noch ein leises, metallisches Geschrabbe zu hören. Der Gitarrenlehrer hat die Hauptsicherung rausgedreht.
„Raus! Sofort raus mit dir! Das war akustische Umweltverschmutzung! Pack dein Höllengerät! Ich kündige!“, Wenn er weiter so brüllt, platzt er gleich.
„Wenn Sie unbedingt meinen. Habe ich denn so falsch gespielt?“ Lukas 2.0 breitet unschuldig die Arme aus wie ein Fußballspieler, der vor den Augen des Schiris seinen Gegenspieler umgetreten hat. Weil Janikowsky nicht antwortet, sondern nur stumm mit Glühbirnenkopf zum Ausgang zeigt, packt Lukas 2.0 sein Instrument zusammen.
„Einen schönen Tag noch!“, flötet er und schleppt die Gitarre und den Verstärker aus der Wohnung. Dabei pfeift er „Im Märzen der Bauer“.
„Raaaaaaaaus!“, brüllt der zarte Janikowsky mit einer Lautstärke, die ich ihm nie zugetraut hätte.
„War ich gut?“, strahlt mich Lukas 2.0 an.
„Ich wusste gar nicht, dass ich so gut Gitarre spielen kann“, sage ich grinsend.
„Das ist keine Kunst“, winkt mein Doppelgänger ausnahmsweise ganz bescheiden ab. „Mit dem Verzerrer hört eh keiner, ob man sich verspielt.“

„Herr Janikowsky hat angerufen.“ Meine Mutter reißt die Tür auf, bevor ich die Klingel drücken kann.
„Er klang völlig verstört. Du sollst dich zum E-Gitarren-Unterricht anmelden. Aber bei einem anderen Lehrer!“
„Wenn er unbedingt meint“, sage ich und zwinkere Lukas 2.0 zu.
„Was ist denn passiert?“ Meine Mutter schaut mich durchdringend an.
„Er hat einfach sehr empfindliche Ohren. Dabei habe ich gar nicht mal falsch gespielt“, sage ich mit einem Unschuldslächeln.

13.Elfmetertraining

Die zwei Ferienwochen vergehen viel zu schnell. Kein Malte, keine Peusen, kein Janikowsky. Das Paradies auf Erden. Nick hat in der ersten Woche einige Male angerufen, ob ich Zeit zum Spielen hätte. Aber ich wollte nicht. Lieber vergrabe ich mich in meiner Legoecke. In der zweiten Ferienwoche hat Nick nicht mehr angerufen.
Als die Schule wieder losgeht, wartet ein braun gebrannter, fies grinsender Malte am Fahrradständer.
„Auf Mallorca haben die Mandeln geblüht. Hier blüht dir was!“
Ich schaue ihn stumm an und tue ihm nicht den Gefallen zu fragen, was mir hier blüht.
„Ab heute kostet das Tagesticket 1 € 50.“ Er hält die Hand auf.
„Schwein!“, rutscht es aus mir raus.
„Dann sag’s doch der Wagner!“, fordert er mich auf.
Tolle Wurst. Dann müsste ich aber auch die Sache mit meinem Handy beichten.
Zähneknirschend hole ich 1 € 50 aus meiner Hosentasche.

Am späten Nachmittag klingelt es. Durch das Glas der Haustür schimmert ein großer, breiter Schatten. Ich öffne.
„Hi, Nick.“ Fragend schaue ich ihn an. Er steht da in Torwartklamotten und hat eine Sporttasche geschultert.
„Wo hängt es?“ Er grinst breit und hat mir scheinbar nicht übel genommen, dass ich in den Ferien angeblich keine Zeit hatte.
„Kommst du nicht mit ins Training?“, fragt Nick.
„Hab’s total vergessen. Warte kurz, ich muss nur noch die Tasche packen.“
Zehn Minuten später bin ich startklar.
„Schau an. Er kommt doch noch mit“, lästert Nick. Und ich dachte schon, du hättest dir ein Dreigangmenü in den Schacht geschoben! Das könnte ich jetzt gut vertragen.“
„Warum kickst du eigentlich, wenn du viel lieber isst?“, frage ich Nick, während wir uns im Stechschritt auf den Weg zum Sportplatz machen.
„Ich muss. Wenn ich nicht im Verein Sport mache, kassiert mein Vater Tablet und Smartphone ein.“
„Das ist ja Erpressung!“, sage ich ehrlich empört.
„Stimmt, aber was meinst du, warum ich Torwart bin?“ Er zwinkert mir zu und pult eine eingeschweißte Salami aus der Tasche.
„Und warum kickst du?“, fragt Nick kauend. „Ganz ehrlich, so unter uns: Cristiano Ronaldo ist ein bisschen besser als du.“
„Mein Vater hat mich angemeldet. Vorher habe ich Leichtathletik gemacht. Aber das gibt es hier im Ort halt nicht“, sage ich seufzend. Wir sind beim Parkplatz vor dem Sportgelände angekommen. Ein Audi TT hält mit quietschenden Reifen. Das Verdeck ist offen. In dem Cabrio sitzt Malte. Er öffnet nicht die Beifahrertür, sondern springt lässig darüber. Seine sehr blonde Mutter trägt eine Sonnenbrille mit Gläsern der Größe ‚Pizza Margharita’.
„Ciao, Mum!“, winkt er ihr.
„Na, ihr Gurken!“, tönt er uns dann entgegen.
„Lieber Gott, streiche diesen Affen von der Gästeliste!“, murmele ich.
„Und falte Malte in der Gletscherspalte!“, betet Nick weiter.
„In Ewigkeit, Amen“, flüstere ich grinsend.
„Ihr tuschelt ja wie die Mädels! Freut ihr euch auch schon auf das Elfmetertraining? Wetten, dass du keinen von mir hältst?“ Er bohrt Nick seinen Zeigefinger in die Brust.
Jochen, unser Trainer, steht schon auf dem Platz.
„Kommt mal in die Gänge, wenn ihr schon zu spät seid!“, ruft er zu uns rüber. „Das Training beginnt pünktlich um halb sechs!“
Schnell schmeißen wir die Sporttaschen an den Spielfeldrand.
„Wir spielen Fangen zum Aufwärmen, Nick, du musst!“ Jochen bläst in seine Trillerpfeife und Nick bläst empört die Backen auf.
Während der anschließenden Trinkpause hält unserer Trainer eine Ansprache.
„So, Männer, am Samstag gilt es: Pokalderby gegen die Jungs vom TSV. Das wird ein knappes Ding. Deshalb üben wir heute Elferschießen!“
„Die hau ich alleine weg!“, tönt Malte.
„Vergiss es. Nur als Team haben wir eine Chance. Und wer das nicht kapiert, spielt nicht!“
„Ja, ja“, brummelt Malte.
„Nick, auf geht’s. Ins Tor mit dir. Wir spielen Elferkönig. Wer trifft, schießt weiter, wer verschießt, setzt sich neben den Sechszehner.“
Juri legt sich als Erster den Ball zurecht. Er läuft an, schießt flach nach rechts, hart und platziert, will schon jubeln, da begräbt ein großer, dicker Schatten den armen, wehrlosen Ball unter sich.
Fassungslos sitzt Juri als Erster neben der Kreidelinie.
„Sensationell, Nick!“, brüllt Jochen begeistert.

Felix versenkt das Ding, Ron knallt an den Pfosten, Marvin hat Glück, der Ball springt von der Latte an Nicks Hinterkopf, von dort ins Tor, Ender schraubt den Ball in den linken Winkel, Max schießt in die Mitte, in der Hoffnung, dass Nick zu einer Seite hechtet.
„Ich hätte wissen müssen, dass der sich nie freiwillig bewegt“, sagt Max angesäuert und trottet zu den anderen Fehlschützen.
Dann bin ich dran. Das ist so wie Vorspielen beim Aulatreff. Wenn mich alle angucken, bin ich blockiert. Meine Schusstechnik ist als Leichtathlet sowieso nicht die Beste.
Ich lege den Ball auf den Punkt. Gehe drei Schritte zurück. Von mir aus gesehen links ist Nicks Schokoladenseite. Er weiß, dass ich es inzwischen weiß. Also denkt er, dass ich nach rechts schieße. Aber nach rechts schießen ist für mich als Rechtsfuß schwieriger. Ich verziehe den Ball dann oft. Also doch nach links. Denkt sich das auch Nick?
Den Kopf voller Gedanken nehme ich die drei Schritte Anlauf, jetzt ist mein Standbein neben dem Ball, ich senke die Fußspitze, um einen satten Vollspann hinzubekommen, wie Jochen es mir gezeigt hat, belauere Nick, ob er eine verräterische Bewegung macht, das rechte Bein holt Schwung, ich ziehe durch, bleibe mit der Fußspitze in der Grasnarbe hängen und schieße ein Kullerbällchen genau auf den Torwart.
„Sensationell“, äfft Malte unseren Trainer nach.
„Dafür läufst du eine Runde!“, sagt Jochen.
„Von mir aus“, Malte winkt großspurig ab, „dann habe ich wenigstens genug Anlauf für meinen Elfer.“
Vom Rand des Sechszehners aus muss ich mit anschauen, wie nach drei Durchgängen tatsächlich nur noch Spalten-Malte übrig bleibt: Er ist unser Elfmeterkönig.
„Also Männer, wenn es am Samstag zum Elfmeterschießen kommt: Unsere Schützen sind Ender, Marvin, Ron, Felix und Malte“, bestimmt Jochen. „Und wenn es während des Spiels einen Elfer gibt: Dann schießt Malte, und sonst keiner!“
„Malte, und sonst keiner“, wiederhole ich angewidert, als wir nach dem Training nach Hause laufen. „Wer war eigentlich der Mann im Rollstuhl, der neben der Tribüne stand und zugeguckt hat?“
„Na, Maltes Vater!“
„Ach so, mein Vater hat mal was erzählt.“
„Du kennst ihn nicht?“
„Nein, ich hab’s nicht so mit Fußballern.“
„Das ist Paul Günther. Der war früher Fußballprofi. Nie gehört?“
„Nerv nicht. Ich bin Leichtathlet.“ Ungeduldig wedele ich mit der Hand. „Warum sitzt er im Rollstuhl?“
„Der war echt gut, Mittelstürmer, war Torschützenkönig. Stand vor seiner Berufung in die Nationalmannschaft. Dann ist er in einem Ligaspiel über die Werbebande geflogen und hat sich die Wirbelsäule gebrochen. Zack, aus, querschnittsgelähmt. Das ging durch alle Zeitungen und alle Fernsehsender.“
„Und dann?“
„…war er lange in Reha. Hat von der Versicherung viel Geld bekommen. Aber Malte hat erzählt, dass es seinen Vater völlig fertig gemacht hat, nicht mehr laufen zu können. Ist dann ein bisschen abgedreht und hat sich auch von Maltes Mutter getrennt.“
„Da kann ich ja fast verstehen, dass Malte ein bisschen komisch ist“, sage ich.
„Spinnst du? Malte ist ein Riesendepp. Feierabend. Apropos feiern: Ich habe nächsten Dienstag Geburtstag. Willst du mit mir feiern?“ Nick schaut mich fragend an.
„Hm, ich weiß nicht“, sage ich ausweichend.
„Wenn du Malte komisch findest: Du bist auch manchmal komisch.“ Nick verdreht die Augen.
„Du verstehst das nicht!“, sage ich.
„Erklär es mir.“
„Na ja, ich hätte lieber Internetfreunde. So wie du“, sage ich.
„Und ich hätte lieber mal einen richtigen Freund, so wie dich!“, sagt Nick.
„Aber wenn wir dann wieder umziehen?“
„Dann sag halt deinem Papa, dass es jetzt mal gut ist mit der Umzieherei. Erzähl ihm, dass die Menschen schon am Ende der Altsteinzeit sesshaft wurden.“
Wir stehen vor meiner Haustür. „Ich denk mal über deinen Geburtstag nach. Wir sehen uns dann morgen in der Schule.“

14.Der Pokalschreck

Es ist Samstagmorgen. Die Rakete hat Pause, trotzdem bin ich schon früh wach. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich mit Nick seinen Geburtstag feiern soll. Außerdem hat mich die allgemeine Aufregung und das Kribbeln im Bauch wegen des Pokalspiels angesteckt.
Endlich klingelt Nick und holt mich ab. Gemütlich laufen wir zum Sportplatz. Keiner zu sehen. Wir gehen in die Kabine. Alle sitzen schon auf den Umkleidebänken und reden wild durcheinander.
„Da seid ihr ja endlich“, begrüßt uns Jochen. „Ich dachte schon, es hätte euch auch erwischt!“ Er füllt den Spielberichtsbogen aus und blättert hektisch in den Spielerpässen.
„Ruhe!“, brüllt Jochen genervt.
„Was hätte uns erwischt?“, fragt Nick.
„Der Magen-Darm-Virus. Wenn ich nicht so vornehm wäre, würde ich sagen: Die Sprühkacke.“
Die Jungs grinsen.
„Das ist überhaupt nicht witzig!“, sagt Jochen. „Ron, Felix, Juri, Basti und Eren fallen aus. Wir sind deshalb nur 7 Mann, können also nicht auswechseln. Und das gegen den TSV im Pokalderby!“
Er schaut mir tief in die Augen. „Du musst heute von Beginn an auf den Platz.“
„Verdammt, dann brauchen wir ja gar nicht erst zu spielen!“, mosert Malte.
„Jetzt halt mal die Luft an. Nur weil dein Vater Profi war, hast du nicht das Recht, Leute runterzuputzen. Wenn ich genug Spieler hätte, würdest du erst mal zugucken. Und als Kapitän solltest du sowieso ein Vorbild sein!“ Wütend schleudert Jochen Malte die Stutzen entgegen. Der fängt sie lässig mit der linken Hand und sagte nur: „Ja, ja!“
Jochen gibt mir Stutzen und Hose und sagt, jetzt schon wieder ruhiger: „Lukas, du spielst Linksaußen und schau, dass du nicht so viele Bälle verlierst!“
„Der Kandidat bedankt sich für das ihm entgegengebrachte Vertrauen“, grummele ich.
„Wenigstens kannst du heute nicht ausgewechselt werden“, versucht Nick mich zu trösten.
Lukas 2.0 lehnt an der Wand und starrt Malte an. Er leuchtet grell, mein Angstlevel ist wohl mal wieder bei 100. Vor was habe ich gerade Angst? Vor dem Spiel? Oder davor, Nicks Freund zu werden? Keine Ahnung. Aber heute brauche ich keine schräge Aktion von Lukas 2.0.
„Mach keinen Mist!“, sage ich zu ihm.
„Was hast du gesagt?“, fragt Nick.
„Nichts.“
„Raus mit euch zum Aufwärmen!“ Jochen klatscht in die Hände.
Die erste Halbzeit verläuft ohne Höhepunkte und Torraumszenen, ein vorsichtiges Belauern, keiner will den ersten Fehler machen.
Beide Teams stehen kompakt, verschieben klug und lassen wenig zu, würden die Heinis im Fernsehen sagen. Ich schaue jetzt nämlich manchmal die Sportschau, man muss sich ja informieren.
Der Schiri pfeift die zweite Halbzeit an.
„Auf Jungs, da geht was!“, feuert uns Jochen an. Sein Kopf ist so rot, als wäre das hier mindestens ein WM-Halbfinale.
Ich fühle mich gut. Cool, mal von Beginn an auf dem Platz zu stehen. Jeden Zentimeter von der eigenen bis zur gegnerischen Eckfahne habe ich schon auf der linken Seite umgepflügt. Heute könnte ich einen Marathon gewinnen! Hauptsache, Lukas 2.0 macht keinen Blödsinn.
Der steht mit unbewegter Miene am Spielfeldrand. In der Halbzeitpause hat es zu regnen begonnen, inzwischen schüttet es. Die Bälle kommen immer ungenauer, Spieler und Spielgerät rutschen nur noch über den schmierigen, tiefen Rasen. Jeder Schritt kostet doppelt so viel Kraft wie auf trockenem Untergrund und jeder Sprint tut weh. Mir brennen die Lungen. Der TSV kann wenigstens immer wieder wechseln.
Kurz vor Spielende steht es noch 0:0. Wir schleppen uns wie rostige Luftpumpen über den Platz. Jochen feuert uns nicht mehr an, dafür schaut er im 10-Sekunden-Takt auf die Uhr. Ein ersatzgeschwächtes Unentschieden und dann die Lotterie im Elferschießen: Das ließe sich vorzeigen.
Die letzte Spielminute bricht an. Malte erobert den Ball im Mittelfeld, beisst die Zähne zusammen und setzt zu einem seiner berühmten Sololäufe an. Umkurvt einen, zwei, drei Gegner und dringt als Rechtsfuß von der linken Strafraumkante in den Sechszehner ein. Noch ein Übersteiger, und der letzte Verteidiger ist ausgetanzt und die Schussbahn frei. Doch der TSV-Verteidiger will sich nicht wie seine Mitspieler vorführen lassen. Mit gestrecktem Bein rauscht er Malte in die Knochen. Sofort pfeift der Schiedsrichter Elfmeter.

„Malte schießt!“, brüllt Jochen durch den prasselnden Regen.
Noch aber wälzt sich unser sicherster Elferschütze mit schmerzverzerrtem Gesicht im Sechszehner.
Ich stehe schnaufend an der Mittellinie, die Hände auf die Oberschenkel gestützt. Da spüre ich, dass mein Herz nach unten rutscht und nach oben katapultiert wird.
„Mach kein Scheiß!“, rufe ich in Richtung von Lukas 2.0.
„Was hast du? Malte hat noch nie verschossen!“ Kevin steht neben mir und pumpt Luft wie ein lungenkranker Maikäfer.
Da spüre ich den Schwindel kommen, halte mir vorsorglich die Ohren zu. Lukas 2.0 steht noch immer neben dem Spielfeld.
Nein, denke ich, lass es, verdammt.
Es pfeift schrill in meinen Ohren. Leider ist es nicht der Schiri, der Pfiff kommt von innen, meine Hände an den Ohrmuscheln sind machtlos. Lukas 2.0 springt über die Absperrung, lächelt mich dabei unschuldig an und trabt zum Sechszehner. Er schnappt sich den Ball und legt ihn seelenruhig auf den Elfmeterpunkt. Dann stakst er fünf Schritte zurück wie ein Cowboy, der sich in die Hosen gemacht hat, und baut sich breitbeinig auf wie Cristiano Ronaldo. Unterirdisch peinlich! Ich könnte sterben. Und alle denken, das wäre ich. Malte, der inzwischen nicht mehr liegt, sondern auf dem Boden sitzt, schaut ihm ungläubig zu.
„Übertreib’s nicht!“, droht er.
„Malte schießt, verdammt noch mal!“, tobt Jochen an der Seitenlinie.
Lukas 2.0 bläst die Backen auf, nimmt Anlauf, jetzt ist sein Standbein neben dem Ball, er gerät in Rücklage und drischt die Kugel über die Latte. Der Schiedsrichter zeigt auf den Abstoßpunkt.
Malte springt auf und stürmt zum Unparteiischen.
„Der zählt nicht. Du hast gar nicht angepfiffen!“
„Erstens wird der Schiedsrichter gesiezt, zweitens zählt der jetzt. Bei dem Sauwetter müssen wir ja mal fertig werden.“
„Aber der Ball war nicht freigegeben. Ich bin unser Elfmeterschütze.“ Malte steht mit hochrotem Kopf 10 Zentimeter vor dem Schiedsrichter.
„Dein Problem, wenn du als Kapitän nicht akzeptiert wirst!“ Der Schiri zuckt mit den Schultern.
Empört stößt Malte den Unparteiischen vor die Brust. Der Mann in Schwarz fällt nach hinten und landet im Matsch. Dann springt der in seiner Ehre angekratzte Kapitän mit einem Bodycheck gegen Lukas 2.0 und begräbt ihn unter sich. Mit den Fäusten teilt Malte seinem Linksaußen mit, was er von ihm als Elfmeterschützen hält. Hilflos zappelt mein Zwilling unter dem athletischen Körper. Nick kommt angesprintet und will mir helfen. Er zerrt an Maltes Schultern. Die Spieler bilden eine Traube um die Kämpfenden. Jochen kommt angerannt und versucht sie zu trennen. Dabei schießt ihn Malte versehentlich mit seinem Ellenbogen ab. Unser Trainer taumelt zurück und stolpert über den Schiri, der immer noch im Matsch hockt und wie ein Auto im Angesicht der Schrottpresse glotzt. Jetzt sitzen zwei im Morast und glotzen.
Endlich kommt wieder Leben in den Unparteiischen. Er rappelt sich hoch, brüllt: „Spielabbruch“, pfeift wie ein Verrückter und gestikuliert wild Richtung Kabine.
„Wenn ihr nicht sofort aufhört, rufe ich die Polizei!“, droht er.
Malte lässt von Lukas 2.0 ab.
„Das hat ein Nachspiel! Kommt alles in den Spielberichtsbogen!“ Der Mann im matschigen Schwarz bringt so etwas wie einen Schlusspfiff zustande und flüchtet in die Kabine.
Sein letzter Pfiff verursacht bei mir ein Schwindelgefühl, mein Herz fährt Achterbahn und ich komme wieder zu mir. Ich liege auf dem Elfmeterpunkt und Lukas 2.0 steht unbeteiligt hinter der seitlichen Spielfeldabsperrung.
Erde, tue dich auf und verschlinge mich, denke ich und schleiche zu den Umkleideräumen.
Nacheinander tröpfeln die Spieler in der Kabine ein. Keiner spricht, vorwurfsvolle, erdrückende Stille.
„Wo ist Jochen?“, bricht Marvin das Schweigen.
„Der hat hingeschmissen!“, sagt Kevin und pfeffert seine Stutzen auf den Boden. „Wir sollen uns einen neuen Trainer suchen, hat er gesagt!“
„Du hast echt einen Lattenschuss, Sander!“ Max schüttelt fassungslos den Kopf. „Nur wegen dir haben wir das Ding heute vergeigt!“
„Ich nehme die Trikots zum Waschen mit!“, biete ich schuldbewusst an.
„Besorg uns lieber einen neuen Trainer, du Pfeife!“, sagt Malte und schleudert mir sein nasses Drecktrikot um die Ohren.
Lukas 2.0 hätte vielleicht geantwortet: „O.K., ich rufe dann mal den Jogi Löw an. Bestimmt hat er Lust“. Aber ich bin nicht Lukas 2.0. Oder doch? Ich bin ich, aber auch du? Ich werde mal ein verdammt ernstes Wort mit ihm reden müssen!
„Und einen neuen Kapitän braucht ihr auch. Ich werde ’ne fette Sperre vom Verband kriegen, mal gucken, was der Schiri in den Spielbericht schreibt. Und alles nur wegen dem idiotischen Sander! Glaubt, er könnte Elfmeter schießen. Wir hätten das verdammte Pokalspiel gewonnen, wenn ich geschossen hätte!“
Malte verlässt die Kabine, die Spieler folgen ihrem Kapitän. Nick ist der Letzte, dreht sich im Türrahmen noch einmal um, geht aber auch.

15.Essen auf Rädern

Ich bin alleine in der nach Käsesocken stinkenden Kabine. Na ja, nicht ganz alleine. Lukas 2.0, der heldenhafte Elfmeterschütze, lehnt sich mit verschränkten Armen an die Tür zu den Duschen.
Die Trikottasche steht auf der Massageliege in der Mitte des Raumes. Matschige Trikots liegen wie nach der Explosion einer Bombe auf dem Boden herum. Normalerweise hätte ich meine Mannschaftskameraden verflucht, doch heute tue ich bereitwillig Buße, indem ich die verschwitzten und klatschnassen Sachen mit spitzen Fingern einsammele und in die Trikottasche stopfe. Mit jedem Trikot wächst meine Wut auf Lukas 2.0.
„Das war ja ein ganz schöner Hammer!“, brülle ich ihn nach dem letzten Trikot an.
„Stimmt, aber leider habe ich drüber gehämmert“, sagt Lukas 2.0 unschuldig.
„Lass die Sprüche! Du weißt, wie ich das meine. Wieso musstest du unbedingt den Elfer schießen?“
„Warum soll immer nur der Großkotz schießen?“
„Weil er es am besten kann.“
„Und wie willst du es lernen, wenn du nie schießen darfst? Und warum liegt dir überhaupt was an dieser Mannschaft, wenn du meistens nur Auswechselspieler bist?“
„Trotzdem gehöre ich irgendwie dazu“, sage ich.
„Mach einen Haken hinter die Geschichte. Hier braucht dich keiner mehr!“ Lukas 2.0 winkt ab.
„Und ob mich hier einer braucht! Ich muss einen neuen Trainer finden.“
„Wen denn?“
„Ich gehe zu Jochen, entschuldige mich bei ihm und frage, ob er uns wieder trainiert.“
„Vergiss es. Der hat nach heute die Schnauze voll. Außerdem hat doch seine Frau gerade ein Kind bekommen. Zeit hat er auch keine mehr.“
„Sonst fällt mir keiner ein“, sage ich zerknirscht. „Ich müsste mal mit der Jugendleitung reden.“
„Aber mir fällt was ein: Essen auf Rädern.“ Lukas 2.0 grinst.
„Was soll der Quatsch? Ein Zivi von der Arbeiterwohlfahrt?“
„Wie nennt ein Kannibale einen Rollstuhlfahrer?“, fragt er.
Nach kurzem Überlegen sage ich: „Ha, ha, ha, Essen auf Rädern, ich lach’ mich tot. Ich bin keinen Zentimeter in der Stimmung für so Kalauer!“
„Kein Kalauer, sondern Maltes Vater.“ Er schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen wie der Herr Oberlehrer an.
„Aber der will doch seit seinem Unfall nichts mehr von Fußball wissen“, sage ich.
„Dann wird’s ja mal Zeit. Ich geh gleich zu ihm. Nein sagen kann er immer noch.“ Mein Chaos-Zwilling schaut siegessicher.
„Untersteh dich. Bei der Peusen und der Geschichte mit Britta und beim Janikowsky: OK, da warst du echt hilfreich. Aber das mach ich lieber selbst.“
„Nur nicht unangenehm auffallen, was, Sanderchen?“
„Spinnst du? Es geht nicht ums Auffallen. Es geht darum, wie man etwas macht.“ Wütend starre ich ihn an.
„Na schön. Ich gebe dir drei Tage. Wenn du dich bis dahin nicht zu Maltes Vater getraut hast, gehe ich zu ihm hin.“
„Ich glaub’, es bröselt. Erpresst du mich jetzt auch noch? Aber von mir aus: Drei Tage. Und wehe, du pfuschst mir vorher dazwischen!“

Nachdenklich laufe ich nach Hause. Meine Sporttasche habe ich wie einen Rucksack aufgesetzt, der Tragegurt der riesigen Trikottasche schneidet in meine Schulter. Es gießt immer noch wie aus Kübeln.
„Mit dir kann man ganz schön im Regen stehen“, beschwere ich mich.
„Jammer nicht, tu was!“, antwortet Lukas 2.0.
„Eigentlich hast du Recht, ich gehe gleich zu Maltes Vater“, sage ich. „Aber wehe, du lässt mich nicht machen!“
Nick hat mir neulich erklärt, wo Maltes Vater wohnt. Es ist leicht zu finden.
Schneller, als mir lieb ist, stehe ich vor der Klingel mit der Aufschrift „Günther“. Ich zögere. Lukas steht neben mir und trommelt ungeduldig gegen die Hauswand. „Drei Tage, denk dran!“ Der Kerl nervt! Schnell drücke ich den Klingelknopf. Lukas 2.0 nickt zufrieden.
„Wer ist da?“, schallt es nach einer endlosen Minute aus dem Lautsprecher.
„Hallo, Herr Günther. Hier ist Lukas. Ich gehe in die gleiche Klasse wie ihr Sohn.“
„Was willst du?“
„Ich muss mit ihnen reden.“
„Hat Malte was angestellt?“
„Nein, nicht direkt. Ich würde gerne persönlich mit ihnen reden.“
„Wenn’s unbedingt sein muss,“ brummt erst Herr Günther, dann der Türöffner.
Die Sport- und die Trikottasche deponiere ich im Treppenhaus. Neben der Klingel der Erdgeschosswohnung lese ich „Günther“. Erdgeschoss, klar, wegen des Rollstuhls.
Er öffnet und starrt mich an. Dann huscht ein Erkennen über sein Gesicht: „Du bist aus Maltes Mannschaft. Versuchst da neuerdings Fußball zu spielen.“
Jetzt weiß ich, woher Malte seine Unverschämtheit hat.
„Darf ich reinkommen?“
Er nickt und ich folge seinem Elektrorollstuhl durch den Flur. An der Wand hängen unzählige Trikots. Die Regale im Wohnzimmer sind voller Pokale und Medaillen. Herr Günther folgt meinem Blick, seufzt, dann sagt er: „Und jetzt raus mit der Sprache. Was ist los?“
Ich hole tief Luft und sage: „Ich habe vorhin beim Pokalspiel einen Superbockmist gebaut!“
„Wegen diesem Sauwetter habe ich nicht zugeschaut. Eigentlich wollte ich kommen“, sagt Herr Günther.
„Ich habe Malte einen Elfmeter weggenommen und ihn verschossen“, fahre ich in meiner Beichte fort. „Hätte Malte geschossen, hätten wir unseren größten Rivalen aus dem Pokal gehauen. Dann hat Malte den Schiri in den Matsch geschubst und mich verprügelt. Und jetzt haben wir keinen Kapitän und keinen Trainer mehr“, sprudelt es aus mir heraus.
„Malte hat den Schiri verprügelt?“
„Nicht verprügelt, nur umgestoßen.“
„Und wieso habt ihr keinen Trainer mehr?“
„Jochen hat hingeschmissen. Deshalb wollte ich fragen, ob Sie vielleicht unser neuer Trainer werden wollen?“
„Seit sechs Jahren hab ich kein Spielfeld mehr betreten! Und ich habe mir geschworen, es auch nie mehr zu tun!“
„Sie können ja am Rand stehen bleiben. Und Malte täte es bestimmt auch gut!“
„Hat dich irgendjemand als Familientherapeut engagiert?“
„Nein, aber wir brauchen einen Trainer, der mindestens so gut ist wie Jochen.“
„Weiß Malte, dass du hier bist?“
„Natürlich nicht!“, sage ich. „Der würde mich gerade wieder verprügeln. Wir trainieren montags und donnerstags um halb sechs. Sie können es sich ja mal überlegen.“
„Hm“, macht Herr Günther und atmet langsam und hörbar aus.
„Ich muss jetzt gehen. Danke, dass ich reinkommen durfte!“
Erleichtert stürze ich aus der Wohnung. Ich habe es eilig, nach draußen zu kommen. Die Wolken reißen auf und die Sonne leckt gierig an den Pfützen.
„Meinst du, er kommt?“, frage ich Lukas 2.0.
„Fifty-fifty“, antwortet er.
„Und du? Bist du jetzt mein ganzes Leben bei mir?“
„Willst du das?“, fragt er zurück.
„Na ja, manchmal ja, manchmal nein. Der Elfer heute zum Beispiel: Das war ne richtige Scheißaktion und kein bisschen witzig!“
„Aber wenn ich danach keinen Druck gemacht hätte, wärst du nie im Leben zu Maltes Vater gegangen.“
„Da hast du Recht“, muss ich ihm zustimmen. „Aber ohne deinen blödsinnigen Elfmeter hätte ich gar nicht zu Maltes Vater gemusst. Außerdem: Geht es denn nur mit Druck?“
„Nein, wenn du irgendwann Chef deiner Angst bist und nicht mehr die Angst dein Chef ist, dann kann ich gehen.“
„Ich dachte, die blöde Angst wäre irgendwann mal ganz weg!“, sage ich empört.
„Ach Quatsch, ein bisschen Angst ist sogar gut. Sie darf nur nicht übermächtig werden und dich lähmen.“ Lukas 2.0 schaut mir tief in die Augen.
„Du predigst wie ein Pfarrer!“, sage ich.
„Ein Pfarrer kann auch mal Recht habe“, sagt er.
„Und warum machst du so bescheuerte Aktionen, bei denen ich nur Ärger kriege, Herr Aushilfspfarrer?“, frage ich meinen Zwilling empört.
„Ganz einfach: 1. Ich bin kein Pfarrer. 2. Es macht Spaß. 3. Du siehst, dass die Welt trotzdem nicht unter geht. 4. Du musst auch lernen, dich mit mir auseinander zusetzen.“
„Ich dachte, du hilfst mir.“ Jetzt bin ich total durcheinander.
„Tu ich doch. Später verstehst du es bestimmt, wenn du über die Zeit mit mir nachdenkst“, sagt Lukas 2.0.
„Du redest ja so, als wärest du schon weg.“
„Keine Panik, noch sind wir mit Spalten-Malte und deinen anderen Angst-Gespenstern nicht fertig! Denk nur mal an das Vorspielen beim Aulatreff vor den Sommerferien.“
Mein Magen klumpt und ich hülle mich in Schweigen.
„Was machst du mit Nicks Geburtstagseinladung?“, fragt Lukas 2.0.
„Ich schaff das nicht. Muss ich ihm morgen wohl sagen.“
„Da wird er extrem traurig sein. Soll ich für dich hingehen?“ Lukas 2.0 schaut mich strahlend an.
„Wehe!“, drohe ich meinem Chaoszwilling.

16.Im Technikmuseum

Es ist ein heißer, schwüler Julimontag. Alle Klassenarbeiten sind geschrieben, die Zeugnisnoten stehen fest, am Freitag gibt es Sommerferien. Ich bin mit einer 4 in Mathe davongekommen. Wir sitzen im Bus und machen mit unserer Parallelklasse einen Ausflug ins Technikmuseum nach Sinsheim. Das Museum ist voll der Hammer. Da kann man Formel 1-Rennwagen, alte Flugzeuge, Panzer, Jagdbomber, Hubschrauber und edle Ferraris bestaunen. Die Highlights aber sind zwei Überschalljets: Die französische Concorde und die russische TU 144. Leider ist der Flugbetrieb dieser Überschallkracher schon lange eingestellt worden. Die letzte Concorde flog im Jahr 2003. Da habe ich Pech gehabt: Gerade komme ich auf die Welt, hört die Königin der Lüfte auf zu fliegen. Nur drei Stunden hat die Concorde von hier bis nach New York gebraucht. Bretthammerfett! Ich war mit meinem Vater schon mal im Sinsheimer Technikmuseum und habe damals in weniger als 90 Minuten die Speicherkarte meiner Kamera vollgeknipst.
Voller Vorfreude starre ich aus dem Fenster und grinse selig.
„Hast du im Lotto gewonnen?“, fragt Nick, der neben mir sitzt und mir tatsächlich verziehen hat, dass ich vor ein paar Wochen nicht mit ihm Geburtstag gefeiert habe.
„Ne, ich freue mich nur aufs Museum!“, sage ich.
Doch mein Hochgefühl könnte ich auch für eine Beichte nutzen. Ich zögere, aber irgendwann muss es einfach sein, ich gebe mir einen Ruck, hole tief Luft und flüstere schnell: „Ich muss dir was sagen.“
„Dann mach es doch. Aber warum flüsterst du?“ Über Nicks Gesicht huscht ein wissendes Lächeln. „Ah, verstehe, der junge Herr ist verliebt!“
„Bist du krank?“ Ich verschlucke mich vor Ekel und werde von einem Hustenanfall geschüttelt.
„Wer ist denn die Glückliche? Frau Peusen?“, frotzelt er weiter.
Gleich vergeht mir die Lust zu beichten.
„Jetzt halt doch einfach die Klappe“, fahre ich ihn an. „Es ist wegen meinem Handy.“
„Hast du es wieder gefunden?“
„Nein, geht gar nicht. Ich habe es weggeworfen. Vor den Osterferien, als ich gesagt habe, es wäre mir gestohlen worden.“ Ich traue mich nicht, Nick anzuschauen.
„Wohin denn?“
„In den großen Müllcontainer auf dem Schulhof.“
Schweigen.
„Das ist alles?“, fragt Nick.
„Ne, leider nicht. Malte hat mich dabei gesehen. Gerade als ich das Scheißding versenkt habe, hat er einen Ball aus dem Gebüsch geholt.“
Schweigen.
„Seitdem erpresst mich das Schwein!“, flüstere ich. Mir kommen ein paar Tränen.
„Was will er von dir?“, braust Nick auf.
„Pssssst!!! Inzwischen 1 € 50 Parkgebühr für mein Trike. Und wenn ich zu Fuß komme, nimmt er 1 € 50 Eintritt für die Schule.“
„Der Drecksack! Das ist ja oberkriminell!“, empört sich Nick.
„Na ja, immerhin habe ich gelogen und alle verdächtigt, mein Handy gestohlen zu haben.“
„Trotzdem, Erpressung ist eine ganz andere Nummer.“
„Ich traue mich einfach nicht, Frau Wagner und der ganzen Klasse die Geschichte zu erzählen. Dann hätte ich ja Ruhe.“ Ich wische mir die Tränen aus den Augen. „Ich habe mich ja nicht mal getraut, dir alles zu erzählen.“
„Warum eigentlich nicht?“
„Es war mir halt oberpeinlich. Und ich wusste nicht, was du dann denkst.“
„Jetzt denke ich, dass du ein Rindviech bist. Weil du mir nichts erzählt hast!“ Er boxt mir freundschaftlich ins Gerippe.
Auch ein nett gemeinter Schlag von Nick sorgt bei mir für einen kurzen Stromausfall.
„Und was machen wir jetzt gegen diesen Erpresser?“, fragt er kämpferisch.
„Das Einfachste wäre, ihm den Grund der Erpressung zu nehmen: Ich muss die Sache mit meinem Handy beichten. Dann hat er mich nicht mehr in der Hand.“
„Dann mach es doch. Gleich jetzt, geh vor zum Busfahrer, nimm das Mikrofon. Dann hast du es hinter dich gebracht.“
„So schnell kann ich das nicht. Und außerdem: Was geht das die Parallelklasse an?“
„Und wann willst du es sagen?“, fragt Nick. Lukas 2.0 hebt zufrieden den Daumen. Hat sich jetzt die ganze Welt verbündet, um mir Druck zu machen?
„Na ja“, sage ich vorsichtig. „Am liebsten noch vor den Ferien.“
Ich spüre einen Klaps an meinem Hinterkopf, mehr schon ein leichter Schlag. Malte ist auf dem Weg von der hinteren Sitzreihe nach vorne.
„Na, Elfmeterkönig, was hast du heute im Angebot? Gehst du im Technikmuseum auf Trainersuche? Ich habe gehört, das Stadion von der TSG Hoffenheim ist da gleich um die Ecke?“
„Verpiss dich, du Drecksack!“ Nick ballt die Fäuste und ist kurz davor, Malte an die Gurgel zu springen.
Auch Lukas 2.0 leuchtet in kräftigen Farben und starrt Malte mit zusammengekniffenen Augen an.
„Bleibt mal locker, Jungs!“, versuche ich zu beschwichtigen.
„Alle sitzen beim Fahren. Wer nicht sitzt, läuft den Rest ins Museum!“ Der Busfahrer lacht über seinen Witz und schaltet das Mikrofon mit einem Knacken aus. Malte verzieht sich auf die Rückbank.
„Ich weiß, du willst mir helfen!“ Ich schaue Nick und danach Lukas 2.0 an. „Aber das muss ich jetzt selbst schaffen, OK? Ich melde mich, wenn ich Hilfe brauche.“
„Also soll ich Malte heute in Ruhe lassen?“, fragt Nick.
Ich nicke, schaue Lukas 2.0 tief in die Augen und wiederhole: „Du lässt ihn in Ruhe!“
Lukas 2.0 zieht eine gelangweilte Schnute und sagt: „Ja, ja.“

In Vierergruppen dürfen wir alleine durchs Museum ziehen.
„Ich könnte hier ‘ne ganze Woche bleiben!“, sage ich begeistert zu Nick, Milan und Max.
„Das wär‘ mir viel zu heiß!“ Nick steht vor einem Formel-1-Auto von Michael Schumacher und wischt sich den Schweiß von der Stirn.
„Dann lasst uns raus gehen. Vielleicht ist es da kühler!“, schlägt Milan vor.
Von wegen! Als wir aus der Halle kommen, wartet draußen der unsichtbare Mann mit der Keule. Es ist inzwischen noch heißer geworden, die Luft ist feucht wie in der Autowaschanlage, Windböen reißen an den Fahnen, die aufgeregt an die Masten klackern, die Sonne brennt und am Himmel türmen sich riesige, schwarze Wolkenberge.
„Gleich geht die Welt unter!“, sagt Max voller Ehrfurcht.
„Dann müssen wir vorher unbedingt noch in die Concorde!“, sagt Milan.
„Ach ne, schaut euch mal die Monsterschlange an!“, meckert Max.
Der Zugang zu den beiden Überschallmaschinen ist durch Drehkreuze beschränkt. Erst wenn Leute rauskommen, darf die entsprechende Anzahl wieder hinein.
„Guck mal, wer in der Schlange steht“, sagt Nick leise.
Malte steht da, breitbeinig, breit grinsend, und kaut so breit wie ein Kamel ein Kaugummi.
„Dann stellen wir uns halt bei der russischen Maschine an“, sage ich.
Der Wind wird noch heftiger, das sind jetzt schon richtige Sturmböen, die an uns zerren. Die Sonne ist innerhalb weniger Minuten verschwunden, mitten am Tag ist es dunkel wie während einer Sonnenfinsternis. In der Ferne donnert es. Erste dicke Tropfen zerplatzen vor unseren Füßen.
Frau Wagner kommt aufgeregt angerannt: „Rein mit euch! Wir treffen uns in Halle 1!“ Dann joggt sie hektisch weiter.
Ein Museumsmitarbeiter rudert mit den Armen und brüllt gegen die Sturmböen: „Alle Besucher bitte runter in die Halle! Sofort die Terrasse räumen!“

17.Schnell wie der Blitz

Malte schlüpft hinter einen der drei dicken Pfeiler, die die Concorde tragen. Ich will Frau Wagner in die schützende Halle folgen, doch etwas zieht mich am T-Shirt wie einen Fisch, der am Haken hängt. Malte! Seit der Sache mit dem Handy hat er mich ja tatsächlich am Haken.
„Na, wollen wir ein bisschen Spaß haben?“ Er schnickt mir mit dem Zeigefinger von unten an die Nase. „Aber du Feigling traust dich ja sowie wieder nicht!“
Ich will los, er zieht mich zurück.
„Bleib mal schön hier! Ich will doch nicht alleine Ärger kriegen.“ Malte ist größer, Malte ist stärker; ich traue mich nicht wegzulaufen. Aus unserem Versteck heraus beobachten wir, wie sich die Menschenströme aus der Concorde und der TU 144 ergießen. Der Zugang bleibt aber durch die Drehkreuze versperrt. Der Museumsmitarbeiter von eben scheucht den letzten Besucher aus der Concorde, einen Mann, dick wie ein Nilpferd. Er klammert sich mit der rechten Hand an das Geländer der Wendeltreppe, die von der Concorde hinab zur Besucherterrasse führt. Mit der linken Hand hält er die Kapuze seiner Regenjacke fest. Aus den einzelnen, fetten Regentropfen ist inzwischen ein gigantischer Wolkenbruch geworden.

Endlich hat der Dicke den Abstieg geschafft und watschelt aufgeregt in die sichere Halle. Der Museumsmann blickt hektisch um sich, dann sprintet auch er ins Trockene. Er hat uns nicht entdeckt, wir sind mit den Flugzeugen alleine.
„Jetzt wären die Vögel ein bisschen leerer“, brüllt Malte durch den Sturm. „Aber das Sanderchen traut sich sowie wieder nicht. So wie er sich auch nie trauen wird zu sagen, dass er sein Scheiß-Handy in den Müll geschmissen hat.“
Die Augen meines Zwillings werden schmal wie Schlitze, dann spüre ich den Ruck, mein Herz fährt Fahrstuhl und donnert gleich wieder nach oben. Mir wird schwindelig, dabei pfeift es in meinen Ohren.
„Wer der Feigling ist, werden wir noch sehen. In welche Maschine gehen wir?“, fragt Lukas 2.0.
„Ist doch klar. Ich in die Concorde, du in die TU 144. Wir sehen uns in drei Stunden in New York!“
Malte boxt Lukas 2.0 gegen die Schulter, sprintet durch den prasselnden Regen und klettert über das Drehkreuz. Als Schatten sehe ich ihn die Wendeltreppe hochrennen, die Blitze reißen ihn für Sekundenbruchteile aus der Dunkelheit und scheinen ihn in der Bewegung einzufrieren. Dann hat ihn die Concorde verschluckt.
„Lass es!“, brülle ich Lukas 2.0 an. „Ich will, dass du jetzt in diese verdammte Halle gehst!“
Lukas 2.0 kneift die Augen gegen den strömenden Regen zusammen, holt tief Luft und sprintet los.
Verdammt, der ignoriert mich einfach. Er klettert über das Drehkreuz, zögert kurz und blickt auf der untersten Stufe der Wendeltreppe nach oben. Die TU 144 wirkt mit ihren gerundeten Schwingen wie ein gigantisches Lebewesen. Die Böen zerren an Lukas 2.0, Regen schlägt ihm ins Gesicht. Er hält sich am Geländer fest und stürmt jetzt höher. Auf Augenhöhe mit den vier gewaltigen Triebwerken vergisst er vor Staunen weiterzulaufen. „Das ist doch Wahnsinn!“, brülle ich. „Stimmt!“, brüllt er lachend zurück. Der Abstand zwischen Blitz und Donner wird immer kürzer. Endlich erreicht Lukas 2.0 die Hecktür und rettet sich ins Trockene.
Die TU 144 ist im Steigflug aufgebockt, als würde die Maschine in Wirklichkeit starten. Das Cockpit erreicht man erst nach einem Anstieg durch die schräge Kabine auf 30 Meter Höhe über der Besucherterrasse. Plexiglas schützt die Sitze und die Inneneinrichtung vor Millionen neugieriger Finger. Lukas 2.0 lehnt sich an die Kabinenwand und atmet tief durch. Er schaut nach vorne. Schräg vor und über ihm lockt das Cockpit.

Plötzlich tut es einen Schlag, als würde ein ICE ungebremst in einen Supertanker krachen. Hat der Blitz in die Maschine eingeschlagen? Lukas 2.0 wird auf den Boden geschleudert. Die Kabine des Überschalljets wird durchgeschüttelt, dann beginnt sie in einem gespenstischen, unwirklichen Grün zu glimmen. Der Leuchtstreifen auf dem Boden flammt auf. Er weist den Weg zum Cockpit. Ungläubig krabbelt Lukas 2.0 auf allen Vieren los. Nach einigen Sitzreihen sieht er eine Kloschüssel neben sich. Die Welt erscheint nun etwas wirklicher. Unsicher steht er auf. Die Plexiglassperre vor dem Cockpit liegt herausgeschleudert auf dem Boden. Wie von einem Magneten angezogen geht er weiter und setzt sich auf den Pilotensitz. Kontrolllampen blinken, die Nadeln der Instrumente zucken. Der Kopfhörer über ihm krächzt, er zieht ihn sich auf die Ohren.
„Lukas, hörst du mich?“ Meinem Zwilling klappt die Kinnlade runter, die Stimme aus dem Kopfhörer: Das ist Malte!
„Ja, ich höre dich. Was, zum Teufel, ist hier los?“
„Der Blitz hat die Systeme reaktiviert“, sagt Malte.
„Dann können wir ja ’ne Runde drehen“, schlägt Lukas 2.0 vor.
„Die haben bestimmt den Sprit abgelassen!“, sagt Malte.
„Von wegen, meine Tankanzeige steht auf voll.“
„Ich fasse es nicht, meine auch“, sagt Malte. „Tja, dann gehe ich mal an den Start.“
„Machst du eh nicht, Malte!“
„Klar doch. Flieg mit, wenn du dich traust. Aber ich kenne dich ja, alter Hosenscheißer.“
Zornig reißt Lukas 2.0 den Kopfhörer herunter. Dann schießt tatsächlich die Concorde von hinten an ihm vorbei. Ihre Düsen brüllen und tauchen das Gewitterdunkel in ein gleißendes Licht. Mit offenem Mund starrt er dem Jet nach. Er muss sich an etwas festhalten und fühlt kaltes Metall. Es ist der Schubhebel.
Der Griff liegt gut in der Hand. Er gibt ein bisschen Schub, die Turbinen heulen auf.
Lukas 2.0 schließt den Gurt und holt Luft, als wäre es zum letzten Mal. Er drückt den Hebel bis zum Anschlag durch. Der Schub der vier Triebwerke presst ihn in den Pilotensitz, dass ihm die Luft wegbleibt. Sein Magen fühlt sich an, als hätte ihn ein Boxer als Sandsack benutzt. Lukas 2.0 wird in den Steigflug katapultiert und nähert sich rasend schnell der Reiseflughöhe von achtzehn Kilometern.

„Woooooooow!“, brüllt er seine Erleichterung über den geglückten Start und den Rausch der Geschwindigkeit in die dunkle Nacht. Langsam gelingt es ihm, die Kontrolle über seine Atmung und seine fünf Sinne zurückzuerobern.
Auf dem Radar sieht er, dass die Concorde schon über dem Atlantik ist. Maltes Stimme tönt blechern aus dem Kopfhörer.
„Hilfe! Lukas, melde dich!“
„Was gibt’s, Malte?“
„Mein Radar ist ausgefallen.“
„Hast du Sicht?“
„Nein, ich stecke in der nächsten Gewitterfront. Absoluter Blindflug! Null Peilung, wo ich bin!“
„Halte die Höhe, da oben sind keine normalen Verkehrsflieger. Ich komme zu dir, dann hängst du dich an meinen Flügel.“
„OK, ich flieg’ dann hinter dir her.“
„Hörst du mir eigentlich zu? Häng dich seitlich an meinen Flügel! Wenn du hinter mir fliegst, zerreißt dich mein Abgasstrahl.“
Kopfschüttelnd schaltet Lukas 2.0 das Funkgerät ab und schimpft: „So ein Vollpfosten. Elfmeter schießen und Leute erpressen, das kann er. Aber von Physik echt null Ahnung!“

Lukas 2.0 hat nun auch den Atlantik erreicht. Über dem offenen Meer gibt er vollen Schub. Mühelos fliegt seine Tupolev die dreifache Schallgeschwindigkeit.
Die grünen Punkte der Concorde und der TU 144 nähern sich schnell auf seinem Radarschirm an. Er drosselt die Schubzufuhr und senkt seine Maschine versetzt vor die orientierungslose Concorde.
„Selten so froh, dich zu sehen, Lukas“, krächzt Malte.
„Ich dachte, du siehst nichts. Und jetzt ab nach Hause!“
Lukas 2.0 fliegt eine 180-Grad-Kurve. Das Gewitter tobt über dem Atlantik und spielt mit den Jets wie eine Katze mit einem wehrlosen Wollknäuel. Dann kracht ein Blitz ins Cockpit der TU 144. Die Motoren sterben ab und die Instrumentenanzeigen erlöschen. Das grünliche Glimmen weicht einem Nachtschwarz. Ein schrilles Pfeifen, Lukas 2.0 wird ohnmächtig und sackt auf dem Pilotensitz zusammen.

Ich höre eine ferne Stimme und will den Kopfhörer überstreifen. Meine Hand greift ins Leere. Jemand rüttelt an meiner Schulter. Ich öffne verwirrt die Augen. Über mir ist ein Sanitäter. Dahinter erkenne ich Frau Wagner und einen Mann in Museumsuniform.
„Wo, wo bin ich?“, stammele ich verwirrt.
„In Sicherheit“, sagt der Sanitäter mit einer beruhigenden, tiefen Stimme. „Der Blitz hat eingeschlagen, als du in der Maschine warst.“
„Stimmt, über dem Atlantik!“, erinnere ich mich.
Der Sanitäter kontrolliert meinen Puls, leuchtet mir in die Pupillen und sagt nachdenklich: „So so. Über dem Atlantik. Vielleicht nehmen wir dich doch lieber mit zur Beobachtung in die Klinik.“
„Und Maltes Radar in der Concorde ist ausgefallen.“
„Du glaubst also, dass du mit dieser Maschine geflogen bist?“, fragt der Sanitäter. „Und wenn ich dir sage, dass sie festgeschraubt ist?“
„Es war aber so! Und Malte ist mit der Concorde geflogen“, sage ich matt.
„Malte ist nirgendwo geflogen. Er hat mich geholt und gesagt, dass du dich in die Maschine geschlichen hast! Er war in der Halle bei uns, als der Blitz eingeschlagen hat“, sagt Frau Wagner.
„Aber Malte war in der Concorde“, sage ich kraftlos, dann wird mir schwarz vor Augen.
„Genug geredet. Wir fahren sofort ins Krankenhaus“, entscheidet der Sanitäter.

18.Die uncoole Unterhose

Es klingelt. Nick steht mit geschulterter Sporttasche vor der Tür. „Darfst du wieder kicken? Letztes Training vor den Sommerferien.“
„Ja ja, ich bin gestern als absolut gesund aus dem Krankenhaus entlassen worden. Eine blitzschnelle Genesung sozusagen.“
„Und warum warst du dann heute nicht im Unterricht?“
„Wir hatten wieder einen Termin beim Rektor.“
„Und, wie war es?“, fragt er.
„Ach, langsam gewöhnt man sich dran.“
„Fliegst du von der Schule?“, fragt Nick.
„Wir gehen doch eh von der Schule. Die spielen jetzt alle auf Zeit und sehnen die Sommerferien herbei. Malte und ich müssen morgen nach der Zeugnisausgabe als Strafarbeit dem Hausmeister noch was helfen.“
„Sonst nichts?“
„Doch. Herr Haase hat meiner Mutter empfohlen, mit mir unbedingt zum Psychologen zu gehen. Da war sie beleidigt.“
„Wie haben eigentlich deine Eltern reagiert, als sie dich in Sinsheim im Krankenhaus besucht haben?“
„Mein Vater hat getobt, meine Mutter nur mit dem Kopf geschüttelt.“
„Hast du beim Rektor von Maltes Erpressung erzählt?“, fragt Nick.
Inzwischen sind wir beim Sportplatz angekommen.
„Ne, mach ich morgen in der Klasse, versprochen.“
„Das war aber auch eine echt idiotische Gewitteraktion!“, sagt Nick und betritt kopfschüttelnd die Umkleidekabine. Alle sind da zum letzten Training vor den Sommerferien. Alle, bis auf Jochen.
„Oh, unser Pilot ist wieder da!“, tönt es vielstimmig durch die Kabine.
„Wenn bei uns nicht bald ein Trainer aufschlägt, fliegst du tatsächlich, nämlich hier raus!“, begrüßt mich Malte.
Zustimmendes Gemurmel der Mitspieler. Meine Angst im Krankenhaus und vor dem Gespräch beim Rektor lässt Lukas 2.0 knallbunt leuchten. Wie ein Dobermann knurrt er in Maltes Richtung.
„Lass es. Ich bin jetzt dran!“, denke ich. Er hebt beschwichtigend die Hände und zieht eine Schnute.
Wir ziehen uns um. Langsam wird das Training echt langweilig ohne einen Trainer. Keine Übungen, immer nur ein Spiel. Und regelmäßig gewinnt die Mannschaft, in der Malte ist.
Ich ziehe meine Jeans aus, beuge mich über meine Sporttasche, die auf der Bank steht und krame nach der kurzen Sporthose.
„Boah, geil Jungs, das Foto das Jahrhunderts! Ich lach mich schlapp!“
Triumphierend hält Malte sein Handy hoch, so dass alle das Display sehen können. Darauf sieht man etwas Gelbes. Verdammt, der hat mich beim Suchen fotografiert. Von hinten. Und das Gelbe ist meine Ernie- und Bert-Unterhose. Weiß auch nicht, warum mir meine Mutter so Teile noch kauft. Aber jetzt verfluche ich sie dafür.
„Lösch das Bild!“, sage ich leise.
„Nix da, das Bild landet in der WhatsApp-Gruppe. Dazu schreib ich: Wegen einem Arsch in so Unterhosen hat die E1 keinen Trainer mehr.“ Malte wiehert vor Lachen.
„Lösch das Bild! SOFORT!!!“ Ich werde laut, richtig laut.
Er hält das Handy hoch und brüllt triumphierend: „Ich denk nicht dran!“
Lukas 2.0 ist aufgestanden, gefährlich langsam geht er auf Malte zu.
„Lass es!“, sage ich.
Er läuft weiter.
Mir wird schwindelig und in meinen Ohren pfeift es.
„Ich will es nicht, verdammt noch mal!“, brülle ich. In der Kabine ist es schlagartig still. Mein Schwindel flaut ab, das Pfeifen lässt nach. Lukas 2.0 winkt entschuldigend ab und geht langsam rückwärts. Er setzt sich hin, seine Farben sind mit einem Schlag blasser. Ich fühle mich stark und sicher.

Malte schaut mich irritiert an. Er scheint die Macht zu spüren, die plötzlich von mir ausgeht.
„Du löschst das Bild. Genau jetzt!“, befehle ich ihm mit ruhiger Stimme.
„Vergiss es!“ Er lehnt sich an die Tür zu den Duschen und hält das Handy hochgestreckt, außerhalb meiner Reichweite.
Er ist größer und kräftiger, aber ich bin schlauer.
Blitzschnell drücke ich die Klinke, und Malte fliegt rückwärts mit der Tür in den Duschraum. Im Fallen lässt er das Handy los. Ich stürze mich auf das Gerät, rappele mich auf und sprinte weiter zu dem kleinen Raum an der Stirnseite mit der Toilette.
Die Kloschüssel ist zum Glück schon offen und ich halte das Handy über den Abgrund. Malte kommt angestürmt.
„Keinen Schritt weiter, Malte! Sonst kannst du dein Handy in der Kläranlage abholen!“
„Wenn du das machst, bist du fällig!“ Er geht einen Schritt auf mich zu.
„Bleib stehen. Du machst mich ja sooooo nervös!“ Absichtlich lasse ich das Handy zwischen Zeigefinger und Daumen über der Schüssel schaukeln.
„Nick, komm mal her und lösch das Bild! Du kennst dich doch mit so Dingern aus.“
Nick macht sich auf den Weg, Malte stellt sich ihm in den Weg.
„Malte, ich meine es ernst mit der Kläranlage. Lass Nick durch!“
Lukas 2.0 taucht in der Tür zur Dusche auf, macht mit Zeige- und Mittelfinger das Siegeszeichen und brüllt begeistert: „So will ich dich sehen, Junge!“ Dann setzt er sich wieder hin. Er ist noch blasser als vorher.
Nick streicht routiniert über den Touchscreen und schießt das oberpeinliche Bild auf die digitale Müllhalde. Er gibt mir das Handy und sagt grinsend: „Das Bild war eh für’n Arsch.“
Mit erhobenen Händen drückt er an Malte vorbei. Der kocht vor Zorn. Ich platziere das Handy ganz kippelig auf dem Rand der Klobrille.
„So Malte, und jetzt gaaaanz langsam. Jede Erschütterung könnte dein Handy abstürzen lassen!“
Ohne Attacke lässt er mich passieren. Wie ein Indianer schleicht er zur Toilette und schnappt sich sein geliebtes Handy vom Rand der Klobrille weg.
„Marvin, halt mal“, zischt er und reicht seinem Freund das Handy.
„Jetzt mach ich dich alle!“, brüllt er und stürzt sich auf mich.
„Was’n das für’n Sauladen?“, tönt da eine tiefe Stimme aus der Umkleidekabine in Richtung Dusche.
„Fängt das Training um halb sechs an oder wann ihr Lust habt?“
„Papa?“ Malte sitzt auf mir und schaut, als würde der Weihnachtsmann in der Tür stehen. „Was machst du denn hier?“
„Genau das wollte ich dich auch gerade fragen.“ Streng schaut er seinen Sohn an.
„Lukas hat euch einen neuen Trainer besorgt. Deswegen bin ich hier.“ Herr Günther fährt mit seinem Elektrorollstuhl in die Kabinenmitte. „Wenn ihr aber nur damit beschäftigt seid, euch gegenseitig zu verprügeln, werdet ihr nie einen Gegner schlagen.“ Er schaut auf seine Uhr.
„Wir fangen alle noch mal bei Null an. Wer nicht mitzieht, kann gehen. Oder muss gehen. Das entscheide dann ich. Und jetzt auf den Platz mit euch! Zeigt mir, was ihr draufhabt.“

Nach 90 Minuten kriechen wir auf dem Zahnfleisch zurück in die Kabine.
„Männer, wir sehen uns in fünf Wochen nach der Sommerpause. Macht zwischendurch was für die Kondition.“ Herr Günther rollt aus der Kabine. Er stoppt noch mal und ruft über die Schulter: „Hat übrigens Spaß mit euch gemacht, ihr Saubande!“ Dann rollt er davon.
Nick, unser Torwart, hat als Einziger noch Puste zum Reden.
„Was für ein Mördertraining! Wenn der uns ein Jahr trainiert, sind wir für immer unschlagbar.“

19.Vorspiel, Version 2.0

„Guten Morgen!“ Frau Wagners Blick schweift langsam durch die Klasse, jedem von uns schaut sie tief in die Augen. „Das Programm von heute: In der ersten Stunde üben wir noch mal, in der zweiten Stunde findet euer allerletzter Aulatreff statt und nach der Pause gibt es Zeugnisse.“
Ihre Stimme wird zittrig, sie greift sich ein Taschentuch und tupft über ihre Augen.
„Das war das letzte Mal nach vier langen Jahren, dass ich euch das Tagesprogramm verkündet habe. Ihr werdet mir ganz schön fehlen. Immerhin seid ihr die beste Klasse der Welt!“
Ein paar Mädchen weinen nun auch, Malte rollt genervt die Augen.
Jetzt muss es sein. Letzte Chance. Ich melde mich.
„Ja, Lukas. Was gibt es?“, sagt Frau Wagner schniefend.
Ich stehe auf. Das habe ich noch nie gemacht.
Weiß auch nicht, warum ich aufstehe. Besondere Botschaften müssen scheinbar besonders verkündet werden. Lukas 2.0, der blass schimmert, fast schon durchscheinend wie ein Gespenst, bleibt sitzen.
„Es ist wegen meinem Handy. Ich wollte mich bei euch entschuldigen. Das mit dem Gestohlen war gelogen. Ich habe es selbst in den Müllcontainer geschmissen.“
Ich hatte Angst, dass mir die Stimme wegbleibt, aber sie funktioniert.
„Es tut mir leid, dass ich euch alle beschuldigt habe. Ich wollte so gerne auch ein Smartphone haben, aber mein Vater hat es nicht erlaubt.“
Ich setze mich wieder hin. Alle starren mich an. Frau Wagner und die heulenden Mädels hören vor Erstaunen auf zu weinen.
„Das, das war mutig von dir, Lukas“, stammelt Frau Wagner. „Also nicht das Wegschmeißen, sondern dass du es uns erzählt hast. Jetzt kannst du mit einem ruhigem Gewissen in die Sommerferien gehen.“
„Hast du es schon deinen Eltern gesagt?“, fragt Frau Wagner.
„Nein, mache ich heute Mittag.“
„Wenn du mich für ein Gespräch mit deinen Eltern brauchst: Ich fahre erst in zwei Wochen an die Nordsee. Ruf mich einfach an!“
Jetzt stehen mir auch die Tränen in den Augen. Die Frau ist echt der Hammer. In ihren Ferien bietet sie mir einen Termin an. Ob es solche Lehrer auch an der weiterführenden Schule gibt?
„Wollen wir alle rumflennen oder vielleicht noch ein bisschen proben? Nicht dass unseren Zuschauern auch gleich die Tränen in den Augen stehen, weil wir so schlecht sind.“ Marvin, unser Ansager, holt uns in die Echtzeit zurück.
„Du hast Recht, Marvin. Lasst uns in die Aula gehen“, sagt Frau Wagner.
Alle setzen sich in Bewegung.
„Ich muss mit Malte noch was klären. Wir kommen gleich nach.“
Frau Wagner schaut mich erstaunt an.
„Na ja, wenn das so ist“, sagt sie im Gehen. „Ihr wisst ja, wo die Aula ist.“
Dann bin ich mit Malte alleine in der Klasse.
„So, Malte. Am Anfang hast du 1 € von mir erpresst, danach 1,50 €. Macht insgesamt 75 €. Ich hab’s Nick ausrechnen lassen.“
Malte schaut mich mit finsterem Blick an und schweigt.
„Die 75 € gibst du mir zurück.“
„Ich hab sie nicht mehr“, sagt er.
„Mir egal. Ich will mein Geld zurück!“
„Und wenn ich es dir nicht gebe?“
„Dann erzähle ich überall herum, dass du mich erpresst hast. In der Schule, in der Mannschaft. Ich frage mich, was dein Vater davon halten würde.“
Malte wird blass. „Aber, aber das ist ja Erpressung“, stottert er.
Ich muss lachen. Auch Lukas 2.0, der fast nur noch wie ein Nebelschleier aussieht, biegt sich vor lachen.
„Nenn es, wie du willst. Ich nenne es Gerechtigkeit.“ Ich atme tief durch. Mir wird leichter ums Herz. Fast schwebe ich in die Aula.
„Alle im Kinositz auf den Boden!“, dirigiert Herr Haase und putzt aufgeregt seine Brille.
Die Erstklässler direkt vor die Bühne, dahinter die Zweitklässler, dann die Drittklässler, ganz hinten wir als die Ältesten und Größten. Hinter uns die Stuhlreihen sind auch schon voll besetzt. Väter, Mütter, quengelige kleine Geschwister, Omas und Opas, natürlich auch meine Eltern. Der Raum brummt vor Erwartung.
„Ruhe bitte!“, ruft Herr Haase.
Alles schnattert weiter. Er schaut suchend über den Rand seiner Brille und nickt dann unserer Sportlehrerin zu. Ein Pfiff auf ihren Fingern und augenblicklich kehrt Ruhe ein.
Herr Haase putzt erneut die Brille, erzählt dann irgendetwas, seine Worte rauschen an mir vorbei.
Wie durch einen langen Tunnel höre ich Marvin sagen: „Und jetzt kommt Lukas mit ‚Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt, Version 2.0’“.
Der gespenstisch blasse Lukas 2.0 grinst mich an und hebt den Daumen. Ich gehe mit wackligen Beinen auf die Bühne und klopfe sachte gegen das Mikrofon. Es kracht aus den Boxen. Ich räuspere mich.
„Also, früher hatten die Bauern ja nur ein Rösslein. Das hat sich so angehört…“ Ich greife zu meiner Akustikgitarre und zupfe „Im Märzen der Bauer“.
Höflicher Applaus.
„Moment, das war’s noch nicht. Dinge entwickeln sich ja weiter. Heute haben die Bauern Traktoren mit vielen PS. Das hört ich dann so an…“
Ich lege die Akustikgitarre zur Seite und stöpsele meine E-Gitarre in den Verstärker. Es kracht wieder, nur diesmal viel lauter. Dann blase ich der versammelten Grundschulgemeinde meinen elektrisch verstärkten Abschiedsgruß um die Ohren.
Herr Haase putzt ungläubig die Brillengläser, ein Lächeln huscht über seine Lippen, er beginnt mit dem Oberkörper zu wippen und klatscht begeistert meinen Rhythmus mit. Ich rocke das Lied doppelt so schnell wie mit der Akustikgitarre. Jetzt klatscht der ganze Saal. Ich komme zum letzten Ton und lasse ihn verzerrt verhallen.
„Zugabe!, Zugabe!“, tönt es durch die Aula.
„Danke, sehr freundlich“, sage ich. „Aber ich würde mich jetzt lieber wieder hinsetzen.“
Ich stöpsele die E-Gitarre aus dem Verstärker, flüchte von der Bühne und sinke mit einem tiefen Seufzer neben Nick auf den Boden. Das weitere Bühnenprogramm huscht an mir vorbei. Dann drückt mir Frau Wagner ein Zeugnis in die Hand, sie drückt mich und meine Grundschulzeit ist zu Ende.
Erschöpft, aber zufrieden sitze ich in meinem Trike. Meine Eltern transportieren meine beiden Gitarren und den Verstärker, ich habe mein Zeugnis an Bord.
Ich tippe den Geheimcode, die Starwars-Melodie ertönt und mein Bordkühlschrank geht auf. Jetzt erst mal eine Buttermilch.
„Das war’s dann wohl!“, sagt Lukas 2.0.
„Stimmt, nie mehr Grundschule“, sage ich.
„Das meine ich nicht“, sagt Lukas 2.0.
„Was meinst du denn?“, frage ich.
„Du brauchst mich nicht mehr“, sagt er.
„Warum das denn?“ Ich schaue nach draußen und sehe meine fast durchsichtige Weiterentwicklung erstaunt an.
„Ist meine Angst jetzt weg?“
„Nein. Aber du weißt jetzt, wie du mit deiner Angst klarkommst. Was ich dir zeigen konnte, habe ich dir gezeigt.“
„Bist du dir sicher?“
„Klar, du kannst es dir gleich selbst beweisen. Du musst deinen Eltern noch erzählen, dass dein Handy nicht geklaut wurde.“
Lukas 2.0 lächelt mich an.
„Und, solltest du Bedarf haben: Es gibt auch Lukas 3.0. Den könnte ich dir auch vorbeischicken.“
„Lass mal gut sein!“, rufe ich grinsend und trete feste in die Pedale. Sommerferien, ich komme!

Am nächsten Morgen weckt mich meine Rakete. Im Tran richte ich mich auf. Mist, ich habe vergessen, den Wecker abzustellen. Irgendetwas ist komisch, fühlt sich anders an. Jetzt checke ich es: Der Platz neben mir im Bett ist leer. Ich schaue mich im Zimmer um. Lukas 2.0 ist weg!
„Bist du noch da?“, frage ich leise.
Keine Antwort. Unten klappert der Briefkasten. Ist das einer seiner Scherze? Ich stürze zum Fenster. Kein Lukas 2.0, dafür Malte! Er verschwindet um die Ecke. Ich laufe nach unten, öffne den Briefkasten. Ein Umschlag steckt darin, darauf steht „Lukas“.
Ich schnappe ihn mir und nehme ihn mit in mein Zimmer. Verdattert sitze ich auf dem Bett. Habe ich das alles nur geträumt?
Ich öffne den Umschlag. Darin sind 75 €. Und in der Zimmerecke steht meine neongrüne E-Gitarre. Ich zwicke mich in den Arm.
Nein, das war kein Traum… Lukas 2.0 gibt es wirklich. Aber jetzt ist er weg. Eigentlich kein Wunder, so blass, wie er gestern war. Und ich habe mich noch nicht mal bei ihm bedankt. Mist! Aber halt, was hat er immer gesagt: Ich bin ich, aber auch du…
Ein Versuch ist es wert. Ich setze mich mit geradem Rücken auf mein Bett, räuspere mich und sage feierlich: „Lieber Lukas 2.0, wo immer du jetzt bist, was immer du gerade machst: Danke!“

Der große Redner war ich noch nie. Dann fällt mir noch was ein: „Und zum Thema Lukas 3.0: Frag mich doch bitte, ob er zu mir kommen soll. Das nächste Mal würde ich da gerne ein Wörtchen mitreden. Ich habe mich nämlich weiterentwickelt.“
Wenn Lukas 2.0 mich gehört hat, grinst er jetzt auch.
Ich gehe runter in die Küche. Meine Eltern sitzen schon am Frühstückstisch.
„Guten Morgen, Lukas. Na, wie fühlt man sich als Fünftklässler?“, fragt mein Vater.
„Ganz OK, hab nur vergessen, die blöde Rakete auszuschalten.“
„Nicht schlimm. Um so eher können wir dir ein Smartphone kaufen gehen“, sagt mein Vater.
„Wenn dir doch dein Altes so peinlich war, dass du es in den Müll schmeißen musstest.“ Meine Mutter lacht.
Was ist denn hier los? Mit offenem Mund starre ich meine Eltern an. Vielleicht träume ich doch…
Zwei Stunden später sind wir wieder zu Hause. Im Gepäck ein cooles Handy. Zusammen schieben wir die SIM-Karte rein und richten alles ein, sogar WhatsApp erlaubt mein Vater.
„Mal schauen, ob es funktioniert!“ Er tippt auf seinem Handy herum.
Da piept mein Handy. Fragend schaue ich ihn an.
„Du hast eine Nachricht bekommen!“ Mein Vater räuspert sich verlegen.

Ich klicke ein bisschen herum, dann gelingt es mir, die Nachricht zu öffnen.
„Lieber Lukas, ich verspreche dir hoch und heilig, dass wir nie mehr umziehen. Dein Papa“
Mir bleibt das Herz stehen, dann stürze ich mich in seine Arme.
„Macht mal Platz, ich will auch mitkuscheln!“ Meine Mutter drückt uns beide.
„Jetzt muss ich aber auch mal eine Nachricht schreiben!“, sage ich. Gar nicht so leicht, die Buchstaben zu treffen, wenn einem die Augen feucht schimmern. Nick ist natürlich online, sagt mein Handy. Grinsend tippe ich:

„Hi Nick, wann wollen wir deinen Geburtstag nachfeiern? Dein Freund Lukas.“

Die ganze Welt schmeckt nach Buttermilch.

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