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Kratz die Kurve, nicht die Autos (Kurzroman für Leser ab 12)

Jonas ist 13 und Torschützenkönig seiner Handballmannschaft. Wegen seiner Powerwürfe nennen ihn alle ehrfürchtig „Dr. Hammer“.
Ein einziger Wurf mit einem Schneeball stellt  Jonas Leben auf den Kopf. Er trifft


ein unbekanntes Mädchen, sie blutet stark, sogar der Krankenwagen kommt.
Der fiese David aus der Parallelklasse hat alles mit angesehen, unerkannt und panisch rennen beide weg. Jonas Leben gerät nun völlig aus der Bahn. Er, Sohn eines Relilehrers, verliert den Glauben an Gott und die Welt. In seinen nächtlichen Albträumen verfolgt ihn ein blindes und blutendes Mädchen. David erpresst ihn, Jonas zieht sich von seinem Vater, seinem besten Freund Murat und auch vom geliebten Handball zurück, denn eins hat er sich geschworen: „Nie mehr werfe ich etwas in meinem ganzen Leben!“
Als David Jonas blutig prügelt, vertraut sich Jonas endlich Murat an. Mit Murat an seiner Seite schafft es Jonas, sich seiner Verantwortung zu stellen: Er macht sich auf die Suche nach dem Mädchen, sucht nebenbei auch Gott und will endlich sein altes Leben zurück.

1. Kapitel: Der Hintereingang. 3

2. Kapitel: Ich kenn‘ dein Geheimnis. 6

3. Kapitel: Hast du dich verlaufen?. 8

4. Kapitel: Die Kacke ist am Dampfen. 10

5. Kapitel: Der verlorene Sohn. 13

6. Kapitel: Was ich glaube! 17

7. Kapitel: Geredet, aber nichts gesagt 21

8. Kapitel: Ein Vollpfosten wird sauer 25

9. Kapitel: Klärendes Gespräch an der Kläranlage  27

10. Kapitel: Erster Anruf: Wichtig. 30

11. Kapitel: Zweiter Anruf: Noch wichtiger 32

12. Kapitel: Pizza und kalte Nudeln. 39

13. Kapitel: Kratz die Kurve, nicht die Autos. 41

14. Kapitel: Mannschaftsrat 45

15. Kapitel: Jonas wirft wieder 50

 

1. Kapitel: Der Hintereingang

Die Turnhalle hatte zwei Eingänge. „Sportler“ stand groß und fett über dem vorderen Eingang. Jonas aber ging um die Halle herum, las die kleinen Buchstaben des Wortes „Besucher“ und gab der Tür einen zornigen Tritt. Seit seinem ersten Bambinitraining vor sieben Jahren hatte er nicht mehr den Hintereingang benutzt. Er öffnete die Tür einen Spalt, blieb unsicher stehen und lauschte. Quietschende Sohlen, das dumpfe Prellen des Handballs, die Anfeuerungsrufe der Zuschauer. Alles klang wie immer, alles klang so vertraut.
„Verdammt, konzentriert euch doch mal!“ Das war die Stimme von Herrn Schmitz, seinem Trainer, ungeduldiger und lauter als sonst. Jonas schlüpfte durch die Tür, stieg mit eingezogenen Schultern die Tribünentreppe hoch und setzte sich in die hinterste Ecke. Sein Team, die SG Starkburg, spielte wie immer in schwarzen Trikots mit einer goldenen Burg auf der Brust. Der heutige Gegner war der HSV Karlstadt, ein kleiner Vorstadtverein. 29 zu 13 hatten sie die Karlstädter im Hinspiel aus deren eigener Halle geworfen, Jonas erinnerte sich noch genau. Er alleine, den im Verein alle nur Dr. Hammer nannten, hatte 14 Tore geworfen. Ungläubig schaute er auf die Anzeigetafel. Die Gastmannschaft aus der Provinz führte mit 5 Toren Vorsprung!
Schicke, Hände groß wie Tischtennisschläger, hielt im Starkburger Tor wie immer teuflisch gut. Jim, der Mannschaftskapitän, dirigierte lautstark die Abwehr und leitete mit den abgefangen Bällen blitzschnelle Gegenangriffe ein. Doch Murat, Linksaußen und Jonas‘ bester Freund, war zu oft alleine gegen die Karlstädter Abwehr. Auf der rechten Angriffsseite mühte sich Ahmed vergeblich auf der für ihn ungewohnten Position. Denn rechts vorne fehlte Jonas, genannt Dr. Hammer, der Linkshänder, der sonst so unnachahmlich von außen zur Kreismitte vorstieß und mit seinen Hammerwürfen den Ball mitsamt dem gegnerischen Torwart versenkte.
Jonas‘ Gedanken wanderten zurück. Früher war seine Welt noch in Ordnung, die Mannschaft seine zweite Familie und er der Torschützenkönig der SG Starkburg gewesen. Früher hatte er noch viele Freunde in der Mannschaft und seiner Klasse gehabt. Es kam ihm so unendlich weit entfernt vor, doch dieses Früher lag nur acht Wochen zurück.
„Mensch Dr. Hammer, gibt’s dich auch noch? Weshalb spielst du denn nicht mehr?“ Herr Breitling, der Mannschaftsbetreuer, setzte sich neben Jonas und riss ihn aus seinen Tagträumen.
„Siehst du nicht, wie du der Mannschaft fehlst?“
„Ich würd’ ja gerne, aber ich kann nicht.“ Jonas antwortete, ohne Herrn Breitling anzuschauen.
„Wie kannst du nicht? Wenn es einer kann, dann du! Bist du verletzt?“
„Nein, ich nicht.“
„Wer dann? Kann ich dir irgendwie helfen?“
„Nein, ich glaube, das kann keiner“, sagte Jonas.
„Spielst du für einen höherklassigen Verein?“
„Niemals, die SGS ist mein Verein.“
„Hast du Stress mit deinem Vater?“, bohrte Herr Breitling nach.
Jonas schüttelte den Kopf.
„Seitdem du fünf warst, hast du hier die Bälle durch die Halle geworfen. Würde ich dich nicht so lange kennen, würde ich denken, du lässt uns im Stich!“, sagte Herr Breitling und schüttelte ebenfalls den Kopf.
Inzwischen hatten auch die Spieler der SG Starkburg gemerkt, neben wem ihr Betreuer auf der Tribüne saß.
„Zieh dich um oder zieh Leine!“, brüllte Schicke nach oben.
Die Worte durchbohrten Jonas, er zog die Schultern noch höher und saß wie eine Schildkröte auf der Tribüne.
„Wenn du uns was zu sagen hast, weißt du ja, wo du uns findest!“
Grußlos ging Herr Breitling zurück an den Spielfeldrand.
In der Halbzeitpause kam Jim zu ihm hoch.
„Hi, Jim!“, sagte Jonas.
„Wenn du nicht spielst, brauchst du hier auch nicht rumhocken.“ Der Mannschaftskapitän hatte sich breitbeinig vor ihm aufgebaut.
„Wieso?“, fragte Jonas.
„Die Jungs haben so einen Hals auf dich! Guckst zu, wie wir auf die Mütze kriegen. Sagst keinen Ton, warum du nicht mehr spielst. Also mach den Abflug!“
„Ich würde es ja gerne erklären. Aber ich kann nicht.“
„Du nervst! Und wenn du die Mannschaftskasse geklaut hättest, könnten wir trotzdem drüber reden. Aber nix sagen und rumheulen, das braucht hier echt keiner!“
Jim drehte sich um und donnerte die vier Tribünenreihen nach unten, dass die Sitzflächen nur so krachten. Der Schiedsrichter pfiff die zweite Halbzeit an. Als Jonas gerade gehen wollte, sah er David, der durch den Zuschauereingang die Halle betrat und sich suchend umschaute. Er entdeckte Jonas und kam zielstrebig zu ihm hoch.
„Na, so ein Zufall“, sagte David.
„Was willst du?“, fragte Jonas leise.
„Ach, ich dachte an ein bisschen Materialkunde. Mal schauen, was härter ist. Ein Schlüssel oder eine Autotür.“
„Wir haben doch erst gestern…“, Jonas sackte noch mehr in sich zusammen.
„Tja, bis jetzt ist kein neuer Auftrag bei meinem Vater reingekommen. Wir müssen wohl noch ein bisschen nachhelfen. Los, komm!“
David ging die Tribünentreppe runter. Dr. Hammer, der Torschützenkönig außer Diensten, blieb sitzen.
David kam zurück und sagte leise: „Denk dran: Ich kenn‘ dein Geheimnis!“
Gequält stand Jonas auf.

2. Kapitel: Ich kenn‘ dein Geheimnis

David lief Richtung Mozartallee, Jonas schlich hinter ihm her. In diesem Teil der Stadt standen große Villen und davor parkten teure Autos.
„Den schwarzen TT da, den nimmst du dir vor!“ David zeigte auf einen Audi am linken Straßenrand. „Ich stehe hinter der dicken Kastanie und pfeife, wenn jemand kommt.“
Jonas sah ihn hinter dem Baumstamm verschwinden, bis nur noch sein erhobener Daumen hinter dem Stamm hervorschaute. Jonas wünschte sich, die Erde würde ihn verschlucken. Mit schlotternden Knien ging er im Zeitlupentempo auf den Audi zu. Die Scheinwerfer starrten ihn an, als wollten sie sagen: Ich weiß, was du vorhast.
Noch drei Meter, er schob den kalten Schlüssel aus seiner schweißnassen Faust.
Jetzt war Jonas neben dem TT. Doch sein rechter Arm war taub und wie gelähmt, er schaffte es einfach nicht, den Schlüssel über den glänzenden Lack zu ziehen. Sein Herz hämmerte, er erwachte aus der Starre, hetzte weiter. Mit jedem Meter, den er zwischen sich und den Audi brachte, kehrte mehr Gefühl in seinen Arm zurück. Mit zitternden Fingern versenkte den Schlüssel tief in der Hosentasche.
Davids Pfiff stoppte ihn. Ein Pfiff, erst hoch, dann wurde er immer tiefer, am Schluss ein dumpfes Ploppen.
Jonas wurde langsamer und drehte um. Wie ferngesteuert. Er zog den Schlüssel aus der Tasche und nahm von hinten Kurs auf den Audi. Jetzt schaffe ich es, dachte er. Einen schönen langen Kratzer, über beide Türen, am besten bis vor zum Scheinwerfer. So war es David am liebsten. Neben dem TT spreizte Jonas den Arm ab und spürte das Metall der Autotür unter seinem Schlüssel. Erschrocken zog er ihn zurück. Dann rannte er los. An der nächsten Straßenkreuzung hatte ihn David eingeholt. Er stürzte sich auf Jonas, dann kugelten beide über den Boden.
„Brauchst gar nicht wegzurennen! Ich kenn‘ dein Geheimnis!“ David drehte Jonas auf den Rücken und setzte sich auf seinen Bauch. Eine Ohrfeige krachte auf Jonas‘ linke Wange. David pfiff, dabei wurde sein Pfeifton immer tiefer. „Soooo lange ist dein Schneeball geflogen!“ Dann ließ er seine Lippen explodieren, ein hohles Ploppen ertönte. „Und so ist er eingeschlagen!“ Eine Ohrfeige donnerte auf Jonas‘ rechte Wange.
„Und wenn du keine Autos zerkratzt, geh’ ich zu deinem Vater!“ Wieder eine Ohrfeige, Jonas wehrte sich noch immer nicht.
„Und zur Polizei!“ Noch eine Ohrfeige.
„Dann mach’ ich es halt selbst, du Feigling! Guck wenigstens, dass keiner kommt!“
David knallte ihm eine letzte Ohrfeige ins Gesicht, dann stand er auf. Jonas saß auf dem Bürgersteig und sah ihn durch einen Tränenschleier auf den Audi zugehen.

3. Kapitel: Hast du dich verlaufen?

Jonas trieb planlos durch die Stadt. Nach Hause wollte er nicht. Wie seit acht Wochen würde sein Vater fragen: „Es ist Samstag. Warum hast du schon wieder nicht gespielt?“ Was sollte er da antworten, verdammt noch mal? Das Spiel seiner Mannschaft war nun vorbei. Das Letzte, was er jetzt noch gebraucht hätte, war einem Mitspieler über den Weg zu laufen. Dann tauchte das große, blaue Hochhaus in seinem Blickfeld auf. Er gab sich einen Ruck. Doch, einem Mitspieler wollte er über den Weg laufen.
Eine Oma hing gebückt über ihrem Rollator und versperrte den Weg zur Eingangstür. Sie zog einen wurstigen Pudel an der Leine hinter sich her. Als sie nach einer gefühlten Minute mit zittrigen Fingern die Haustür aufgeschlossen hatte, quetschte sich Jonas an ihr vorbei und drückte ungeduldig die Aufzugstaste. „Na, na, na!“, grummelte die Oma hinter ihm her. Bis der Aufzug endlich kam und die Tür sich in Zeitlupe öffnete, war auch die Oma mit ihrem Pudel bereit zum Einsteigen. Quietschend schloss sich die Tür hinter den drei Passagieren. „Baujahr 1966“ las Jonas an der Seitenwand, was sein Vertrauen in diesen Lift jedes Mal auf eine harte Probe stellte. Sobald der Aufzug losruckelte, begann die gelockte Fleischrolle auf vier Beinen zu knurren. Sein Frauchen starrte Jonas genauso grimmig durch ihre dicke Brille an. Die haben beide den gleichen Frisör, dachte er, und ein Grinsen huschte um seine Mundwinkel. Sofort guckte die Oma noch grimmiger. Endlich hielt der Aufzug im neunten Stock.
„Wiedersehen“, murmelte Jonas.
„Den müssen wir nicht wiedersehen, stimmt’s Wastel?“
Die Aufzugstür schloss sich und Jonas konnte nicht mehr hören, ob der Pudel seinem Frauchen antwortete.
Er klingelte an einer Wohnungstür. Aylin öffnete, Murats kleine Schwester.
„Ist Murat schon vom Spiel zurück?“, fragte Jonas.
„Gerade gekommen“, dann brüllte sie in die Wohnung: „Murat, für dich!“
Jonas hörte Erdem und Kemal streiten. Die Zwillinge stritten eigentlich immer. Murat kam an die Tür.
„Krass, der Jonas. Hast du dich verlaufen?“
„Ich glaube nicht.“
„Was war denn das für ein abgefahrener Auftritt in der Halle eben?“
„Ich muss mit dir reden.“
„Komm rein.“ Murat trat zur Seite.
„Bei euch ist Party wie immer.“ Jonas schüttelte den Kopf. „Lass uns im Lager reden.“
„Im Lager? Da waren wir ja schon ewig nicht mehr“, sagte Murat überrascht.
Aylin schob sich an ihrem Bruder vorbei. Sie starrte Jonas an, wischte die Rotznase an ihrem Ärmel ab und fragte: „Hast du geweint?“
„Nein, hab’ ich nicht“, antwortete Jonas genervt. „Komm schon, Murat. Ich will ja mit dir reden, aber nicht hier.“
Murat sagte seiner Mutter Bescheid, dann zogen sie los. Neben der Skateranlage lag der Wertstoffhof, Murats Onkel arbeitete dort. Wenn er Dienst hatte, durften sie sich heimlich brauchbaren Krempel aus den Containern fischen.
Murat kickte gegen eine Dose, die auf dem Boden lag. Nach zwei Metern landete sie scheppernd.
„Jetzt sag schon, was los ist!“
„Das geht nicht im Gehen“, sagte Jonas.
„Willst du wissen, wie das beschissene Spiel ausgegangen ist?“, fragte Murat.
„Wenn du so fragst lieber nicht.“
Schweigend liefen sie weiter.
Hinter dem Wertstoffhof wehte ihnen der vertraute Geruch der Kläranlage in die Nase. Sogar bei Gegenwind konnte man ihn riechen. Sie kämpften sich durch dorniges Gebüsch, wie immer auf einem anderen Weg, damit kein Trampelpfad ihr Versteck verriet.

Direkt am Zaun zur Kläranlage hatten sie ihr Lager eingerichtet. Mit alten Plastikstühlen vom Wertstoffhof, einer Plane über dem zerfledderten Sonnenschirm und einem wackeligen Campingtisch war vor zwei Jahren ihr geheimes Reich entstanden. Hier waren sie immer ungestört geblieben, denn gleich hinter dem Zaun, keine drei Meter entfernt, schwappte in einem Becken der stinkige Faulschlamm.
Sie lümmelten sich auf die Stühle und legten die Füße auf den Tisch.

4. Kapitel: Die Kacke ist am Dampfen

„Jetzt bin ich echt mal gespannt, Alter!“, brach Murat das Schweigen. „Seit ewigen Zeiten warst du nicht mehr im Lager. Du spielst kein Handball mehr, bist in der Schule komisch und kommst nicht mehr zu mir nach Hause. Hab ich dir was getan?“
„Nein, du doch nicht!“, sagte Jonas schnell. „Außerdem übertreibst du mal wieder. Dein ewig sind acht Wochen.“
„Und warum hängst du mit diesem Vollpfosten David aus der 7b rum? Bist du irgendwie krank?“ Murat zog die Augenbrauen hoch.
„Ich bin nicht krank. Da ist was, das macht mich krank.“
„Mach’ keine Ratestunde, du willst doch mit mir reden!“ Ungeduldig ruderte Murat mit den Händen.
„Ich werde erpresst!“, stieß Jonas hervor.
„Erpresst? Krass, Alter! Das gibt’s doch nur im Krimi. Von wem?“
„Von David!“ Jonas starrte auf seine Schuhspitzen. „Am besten, ich erzähle dir die ganze Geschichte.“
„Guter Plan“, sagte Murat und lehnte sich zurück.
„Also, genau vor diesen acht verdammten Scheißwochen hing David alleine am Brunnen rum. Du weißt ja, der in der Schumacherstraße. Es hat Schnee gelegen, der war schon ganz matschig. David hat Schneebälle geworfen. Er wirft aber wie ein Mädchen.“
„So wie der wirft, beleidigst du alle Mädels!“, unterbrach ihn Murat und lachte.
„Ich bin also zu ihm hin und wollte ihm zeigen, wie man richtig wirft. Ich treff‘ den Bus da an der Haltestelle, hab’ ich gesagt. Das schaffst du nie, meinte er. Der Bus stand locker 50 Meter weit weg. Ich hab‘ einen Schneeball gemacht, ihn fest gedrückt, das Wasser kam raus, eigentlich war’s dann ein Eisball, paar Schritte Anlauf, dann ist der Ball geflogen, immer weiter, am Bus vorbei und dann…“. Jonas schluckte.
„Was dann?“ Murat vergaß vor Spannung den Mund wieder zu schließen.
„Dann hat sich ein Mädchen die Hände vors Gesicht gehalten. Dann saß sie auf dem Boden. Leute sind hektisch um sie rumgerannt. Sie hat geblutet. Ein Krankenwagen von den Johannitern kam. Dann sind David und ich abgehauen.“
„Hat euch jemand gesehen?“, fragte Murat.
„Glaube nicht.“ Jonas schüttelte den Kopf.
„Und warum erpresst dich David?“
„Sein Vater hat eine Autolackiererei. Aber gerade geht sein Geschäft superschlecht. Er musste sogar schon einen Mitarbeiter feuern.“
„Was hat das mit David zu tun?“, fragte Murat.
„Ne Menge. Sein Vater hat nur noch schlechte Laune und brüllt zu Hause rum. David hat ein schrottiges Geburtstagsgeschenk bekommen und in Urlaub können sie auch nicht mehr fahren. Vielleicht geht die Werkstatt sogar pleite!“
„Und die Erpressung? Was will er von dir?“ Murat platzte fast vor Ungeduld.
„David will, dass ich Autos zerkratze. Und dass ich Schmiere stehe, wenn er es macht. Die kaputten Autos werden dann bei seinem Vater neu lackiert. Hofft er wenigstens.“
„Und wenn du dich weigerst?“, fragte Murat.
Dann geht er zu meinem Vater und zur Polizei.“
„Kennst du das Mädchen?“, fragte Murat.
„Nein, es hat schon gedämmert. Außerdem war die ewig weit weg. Ich glaube, die war ein bisschen älter, 15 oder so.“
„Vielleicht hatte sie nur eine kleine Platzwunde?“ Murat versuchte seinen Freund zu beruhigen.
„Nur eine Platzwunde. Du bist gut.“ Jonas atmete schwer. „Weiße Jacke und rote Mütze, daran erinnere ich mich. Jede Nacht wache ich auf, klitschnass geschwitzt, und sehe sie mit dieser weißen Jacke, im Traum sind immer Blutflecken dran. Sie stolpert mit einem Blindenhund durch die Stadt und sucht mich und droht mir und verflucht mich.“
„Übertreib’ nicht, Junge. Vielleicht ist sie gar nicht blind, und du machst dir das Leben umsonst zur Hölle.“ Murat schnalzte mit der Zunge und schaute mit hochgezogenen Augenbrauen in den Himmel. „Hast du schon Autos zerkratzt?“
„Ja, drei“, antwortete Jonas zerknirscht. „Aber wenn’s nach David ginge, hätte ich schon viel mehr zerkratzt. Immer, wenn ich es nicht mache, verprügelt er mich.“
„Aber du bist doch stärker als dieser Schlappschwanz!“
„Wenn ich mich wehre, geht er vielleicht zur Polizei“, sagte Jonas kleinlaut.
„Das geht gar nicht! Den Scheißkerl machen wir alle!“, brüllte Murat.
„Oder er geht zu meinem Vater!“
„Dann musst DU halt zu deinem Vater gehen und alles erzählen.“ Murat boxte Jonas zur Aufmunterung in die Rippen.
„Das, das schaff’ ich nicht.“ Jonas zog die Schultern hoch.
„Kapier’ ich nicht. Dein Vater: Relilehrer, Vertrauenslehrer für die ganze Schule. Der versteht doch immer alles und hilft jedem.“
„Vielleicht gerade deswegen. Irgendwie hab’ ich Angst ihn zu enttäuschen.“
„Und wieso kein Handball mehr?“, fragte Murat.
„Weil ich mir geschworen habe, nie mehr was zu werfen“, sagte Jonas.
„Mann, Mann, Mann.“ Murat schüttelte ungläubig den Kopf. Dann hingen beide ihren Gedanken nach.
Nach einiger Zeit fuhr Murat hoch: „Und warum erzählst du mir den ganzen Mist erst heute? Ich dachte, ich bin dein Freund!“
„Bist du doch auch. Ich konnte es halt nicht eher.“
Sie brüteten weiter vor sich hin. Der Frühlingswind wehte eine kräftige Brise Kläranlagenluft herüber. Murat schnupperte und sagte: „Die Kacke ist gewaltig am Dampfen!“

5. Kapitel: Der verlorene Sohn

Jonas und alle anderen der 7a saßen auf dem Hallenboden, nur Schicke und Jim standen. Herr Baader, der Sportlehrer, hatte sie als Mannschaftskapitäne für das Fußballspiel ausgesucht.
„Macht Tipp Topp, oben gewinnt. Und denkt dran, dass ihr nicht immer die Selben wählt!“, sagte Herr Baader.
Schicke mit seinen riesigen Goofyfüßen gewann, er holte als ersten Murat in seine Mannschaft. Jim wählte Ahmed, dann leerte sich der Hallenboden immer weiter. Übrig blieben Jonas, der dicke Tom und Leonie, die beim Laufen immer über die eigenen Füße stolperte.
„Rudis Resterampe“, zischte Jonas wütend, der sonst immer gleich am Anfang gewählt wurde.
„Nimm’s locker!“, sagte Tom. „Je später du gewählt wirst, umso länger kannst du sitzen!“
„Jetzt nimm doch schon den Jonas!“ Murat boxte Schicke in die Rippen.
„Vergiss es, Alter! Wer nicht mit uns Handball spielt, braucht auch nicht mit uns zu kicken!“
„Aber er will uns doch nicht ärgern!“
„Tut er aber. Und Murat, du musst langsam auch aufpassen, dass du nicht am Schluss noch dasitzt!“
Schicke wählte Leonie, Jim nahm Tom, und Jonas saß alleine im Mittelkreis.
„1, 2, 3 ins faule Ei“, rief Jim und zeigte mit dem Finger auf Jonas, „wie früher beim Plumpsack!“
„Ich geb‘ dir gleich auf deinen Plumpsack!“ Jonas war aufgesprungen und ging wütend auf Jim los.
„Stopp, stopp, stopp!” Herr Baader schob seine breiten Schultern zwischen die Streithähne. „Das gibt für beide die gelbe Karte, bevor das Spiel überhaupt begonnen hat. Und damit ihr euch wieder vertragt, spielt ihr jetzt in einer Mannschaft!“

Lustlos zog sich Jonas ein Leibchen über und trabte danach müde über das Feld. Das Spiel blieb lange torlos, die Hallenuhr zeigte schon 12.30 Uhr, gleich würde Herr Baader das Spiel abpfeifen. Da eroberte Jim den Ball im Mittelfeld, umdribbelte drei Gegenspieler und stand vor dem herausstürmenden Schicke. Jonas war mitgelaufen und stand neben ihm frei. „Spiel ab“, rief er.
Doch Jim versuchte auch den Torwart auszuspielen. Schicke schmiss sich todesmutig auf den Ball und begrub ihn grinsend unter sich.
„Dir abspielen? Eher hack’ ich mir die Füße ab!“, brüllte Jim, dann beendete Herr Baader die Sportstunde. Jonas schlich mit hängenden Schultern in die Umkleidekabine, das eisige Schweigen dort ließ ihn frösteln.

Danach stand Religion auf dem Stundenplan. Freitags in der siebten Stunde und dann auch noch beim eigenen Vater. Zusammen mit denen aus der 7b, die auch katholisch waren. Also auch mit David. Jonas hatte das Gefühl, die ganze Welt hätte sich gegen ihn verschworen.
Herr Dornbusch kam schwungvoll in die Klasse, ließ seine Ledertasche auf das Pult klatschen und schaute in gelangweilte Gesichter. „Ihr seid wohl alle schon im Wochenende?“, fragte er. Müde Reaktionen. Er ließ ein Arbeitsblatt durch die Reihen laufen.
„Ein Blatt nehmen, den Rest weitergeben. Wenn ihr gut mitmacht, können wir vielleicht ein bisschen früher ins Wochenende gehen!“
Vereinzelte Lebenszeichen in der Klasse.
„Mia, lies du doch mal!“
„Wo sind wir?“, fragte Mia kaugummikauend.
„Du hast gerade ein Arbeitsblatt bekommen! Hast du mal draufgeschaut? Mensch Leute, ich hab den Stundenplan doch auch nicht gemacht. Aber denkt bitte dran, dass ich euch trotzdem Noten geben muss.“
Herr Dornbusch schüttelte den Kopf und begann selbst zu lesen:
 Ein Vater hatte zwei Söhne. Der jüngere Sohn sagte zu ihm: „Gib mir das Erbteil, das mir zusteht.“ Mit dem Geld zog er in ein fernes Land. Der ältere Sohn blieb zu Hause und arbeitete für seinen Vater.
Herr Dornbusch schaute auf. Sein Blick blieb an Jonas hängen und er lächelte ihn an. Doch Jonas, der neben David saß, erwiderte das Lächeln nicht, sondern starrte Löcher in die Luft. Herr Dornbusch las weiter.
Der jüngere Sohn lebte in der Fremde in Saus und Braus und verprasste sein ganzes Geld. Als er kein einziges Geldstück und auch keine Freunde mehr hatte, musste er Schweine hüten und ihr Futter essen, um nicht zu verhungern. Da erinnerte er sich an seinen Vater. Er überwand seinen Stolz und kehrte nach Hause zurück. Sein Vater nahm ihn voller Freude in die Arme und ließ ihm teure Kleider bringen. Sie feierten ein großes Fest. Der ältere Sohn aber war eifersüchtig und beschwerte sich bei seinem Vater.
Herr Dornbusch legte das Blatt lächelnd auf das Pult und sagte: „So ist er, unser Gott und Vater. Immer wieder nimmt er uns in den Arm, verzeiht uns, tröstet uns. Und solche Väter und Mütter wünsche ich euch auch in eurer Welt. Jetzt holt bitte euer Heft raus und schreibt auf, was Jesus mit diesem Gleichnis sagen wollte.“
„Ich dachte, wir hören früher auf“, beschwerte sich Tom.
„Ja, wenn ihr gut mitmacht. Davon habe ich bis jetzt nichts gesehen!“
Die Mädchen und Jungen hingen lustlos über ihren Heften, bis der Gong die Stunde beendete. Schlagartig kehrte Leben in die eben noch so schlaffen Körper.
„Schönes Wochenende!“, rief Herr Dornbusch in den Trubel hinein und winkte Jonas zu sich. „Geh du schon mal heim. Ich habe noch ein Elterngespräch und komme in einer Stunde zum Mittagessen!“

6. Kapitel: Was ich glaube!

Jonas ging noch auf die Toilette um David Zeit zum Verschwinden zu geben. Er betrachtete die Fliesen über den Pinkelbecken. Bei einer ungeraden Zahl ist er schon weg, orakelte er. Bei 17 hörte er zufrieden auf zu zählen. Er wusch sich die Hände und trocknete mit Hingabe auch die Fingerzwischenräume. Alles gaaanz langsam. Zur Sicherheit orakelte er noch die Anzahl der Treppenstufen runter in die Aula, wieder ungerade heißt, er ist ganz bestimmt schon weg. Bei 24 kam er im Erdgeschoss an. Er wollte schon mit sich diskutieren, ob die letzte Stufe gar nicht mehr zur Treppe, sondern schon zum Boden der Aula gehört, da sah er David, der sich lässig auf der Heizung breit gemacht hatte.
„Verdammter Mist!“, fluchte Jonas leise.
„Keine Angst, ich will nur mit dir reden.“ David stand auf. „Heute lassen wir die Autos mal in Frieden.“
„Ach ja?“ Jonas schaute ihn überrascht an.
„Sag mal, glaubst du das, was dein Vater da predigt?“, fragte David.
„Na ja, manchmal schon, manchmal auch nicht“, antwortete Jonas zögerlich.
„Und glaubst du, Gott verzeiht uns, wenn wir Autos zerkratzen?“, bohrte David weiter.
„Hm, wenn es uns leid tut, dann vielleicht schon.“
Die beiden machten sich auf den Heimweg.
„Und soll ich dir mal sagen, was ich glaube?“ David wartete die Antwort gar nicht ab.
„Ich glaube, dass es diesen Gott gar nicht gibt. Wenn ich mir die Welt anschaue, dann kann es ihn doch gar nicht geben. Krieg und Mord und Hunger. Und Kinder, die an Krebs sterben. Und wie kann Gott zulassen, dass die Werkstatt von meinem Vater pleitegeht, hä?“ Er schaute Jonas provozierend an.
„Mein Vater sagt immer, dass Gott uns Menschen einen freien Willen lässt…“
„So ein Gelaber“, unterbrach ihn David. „Und wenn bei einem Erdbeben Zehntausend hopps gehen: Ist das Erdbeben Gottes Wille, wollen das die Menschen, oder was?“
Sie waren bei Davids Haus angekommen.
„Ach, noch was. Am Montag beten wir nicht ‚Dein Wille geschehe’, dann machen wir ‚Mein Wille geschehe’!“
David pendelte seinen Schlüssel wie ein Hypnotiseur vor Jonas‘ Nase und lächelte fies, dann verschluckte ihn die marmorne Eingangshalle des neuen Mehrfamilienhauses.
Hier quietscht der Aufzug garantiert nicht, dachte Jonas und trottete mit hängenden Schultern weiter. Zwei Querstraßen weiter war er zu Hause. Er zog seinen Schlüssel, der seit Wochen gleichzeitig Türöffner und Tatwaffe war, aus der Tasche, betrachtete ihn angewidert und steckte ihn ins Schloss. Die schwere Haustür fiel hinter ihm zu und Jonas nahm den dritten Stock in Angriff. Bleigewichte schienen ihn im breiten Treppenhaus mit den knarrenden und ausgetretenen Stufen und der Stuckverzierung an der Decke wieder nach unten zu ziehen. Auf dem Treppenabsatz vor ihrer Wohnung stand ein riesiger Dornbusch. Zornig trat er gegen den großen Blumentopf, es schepperte dumpf. Der Schmerz schoss in seine große Fußzehe, als sei ein Panzer darüber gefahren. Noch zorniger als vor dem Tritt schloss er auf, feuerte seinen Rucksack in die Ecke und warf sich mit seinem Handy auf die Couch.
Und wenn die jetzt wirklich blind ist?, schrieb er Murat.
Jonas‘ Handy klingelte. Es war Murat.
„Was würdest du dafür geben, dass sie nicht blind ist?“
„Hm, du stellst Fragen. Mein Handy, oder den Gaming PC, wahrscheinlich sogar beides. Und weißt du, was heute komisch war?“
„Ne, aber in zehn Sekunden werd‘ ich’s wissen!“
„Mein Vater hat das Gleichnis vom verlorenen Sohn durchgenommen.“
„Ja ja, dem geht’s wie unserer Mannschaft: wir verlieren auch nur noch“, sagte Murat.
„Sehr witzig. Der Sohn hat nicht verloren, er war verloren. Aber das ist gar nicht im Buch, mein Vater hat ein AB mit ganz vielen Bildchen ausgeteilt. Das ist voll der Grundschulstoff.“
„Und was passiert in der Geschichte?“
„Der Sohn wollte weg, hat Mist gemacht, aber sein Vater hat ihm verziehen und ihn wieder bei sich aufgenommen.“
„Ja und?“
„Ich glaube, er hat das extra für mich drangenommen, wollte mir was damit sagen.“
„Verdammt, dann rede halt auch mit ihm!“, rief Murat.
„Versuch’ ich ja. Ciao.“
Jonas drückte das Gespräch weg.
Es war halb drei. Um Viertel vor drei wollte sein Vater kommen. Jonas deckte den Tisch und briet Spiegeleier. Um fünf vor drei klingelte das Telefon, es war sein Vater, er käme eine Viertelstunde später. Aus der Viertelstunde wurde eine halbe und die Dornbuschs saßen um halb vier vor kalten Spiegeleiern.
„Wie hat dir das Gleichnis vom verlorenen Sohn gefallen?“, fragte Herr Dornbusch.
„Na ja“, antwortete Jonas. „Ist ’ne nette Geschichte. Aber dass der ältere Sohn sauer und eifersüchtig war, ist doch wohl auch klar. Der Jüngere haut das Geld auf den Kopf und bekommt ein Freudenfest, der Ältere rackert sich den Buckel krumm und kriegt nichts.“
„Aber er hatte doch die ganze Zeit schon alles. Damit will uns Jesus sagen, dass es uns bei Gott an nichts fehlt.“ Herr Dornbusch breitete die Hände aus.
Wie ein Prediger, dachte Jonas genervt. Und überhaupt, wo war Gott eigentlich, als ich den Schneeball geworfen habe? Wieso hat er das Mädchen nicht beschützt?

Laut sagte er: „Wo war dein Gott eigentlich vor neun Jahren, als der Betrunkene in Mamas Auto reingefahren ist? War er da im Urlaub? Und warum hat er nur den Besoffenen beschützt? Was soll das für ein Gott sein?“
„Langsam, langsam, mein kleiner Leo. Mein Gott ist auch dein Gott…“
„Ich bin nicht mehr dein kleiner Leo! Außerdem merke ich nichts davon, dass dein blöder Gott in dieser bescheuerten Welt ist!“
„Und ich glaube, man kann nur auf jemanden so wütend sein, den es auch gibt!“, antwortete Herr Dornbusch sanft.
„Dann zeig’ ihn mir. Und warum war Mama auf der Stelle tot und der Besoffene hat nur ein paar Kratzer abbekommen?“
„Weiß ich nicht. Und daran habe ich auch noch zu knabbern. Vielleicht verstehen wir irgendwann den Sinn, wenn es denn einen gibt. Traurig und wütend macht mich, dass sich der Besoffene nicht einmal bei uns gemeldet und gesagt hat, dass es ihm leid tut. Ich glaube, der trägt noch viel daran schwerer als wir. Oft tut es gut, wenn man mit Leuten spricht und sein Herz ausschüttet. Schweigen ist die Hölle.“ Herr Dornbusch lächelte Jonas aufmunternd zu.
„Ich bin nur dein Sohn, mir musst du keine Predigten halten!“
Er rannte in sein Zimmer.

7. Kapitel: Geredet, aber nichts gesagt

Am nächsten Tag hatte die SG Starkburg ein Auswärtsspiel. Jetzt wärmen sich die Jungs auf. Werfen Schicke warm, dehnen sich, machen Sprüche und einen Matchplan, wie der Gegner besiegt werden kann. Jonas lag auf dem Bett, seine Gedanken fuhren Achterbahn. Wieder ein Samstag ohne Handball.
Dann kann ich ja auch was Sinnvolles tun, dachte er und schnappte sich die Liste mit den unregelmäßigen englischen Verben. So oft er sie aber auch durchlas, sein Hirn war löchrig wie ein Sieb.
Dieser verdammte Schneeball müllt meinen ganzen Arbeitsspeicher zu! Zornig pfefferte Jonas das Englischbuch in die Ecke. Die Buchseiten plusterten sich auf wie bei einem gerupften Huhn im Sturzflug.

Am Sonntag weckte Herr Dornbusch seinen Sohn.
„Guten Morgen, aufstehen! Der Gottesdienst fängt bald an.“
„Ich will nicht.“
„Was willst du nicht?“, fragte Herr Dornbusch.
„In die Kirche gehen.“ Jonas zog die Bettdecke bis zur Nasenspitze.
„Wieso denn das?“
„Keine Lust.“
„Was heißt: Keine Lust?“
„Ach, ich muss gerade über Gott und die Welt nachdenken!“
„Über Gott nachdenken? Da bietet es sich doch an, in die Kirche zu gehen.“
„Nö, irgendwie kann ich da in letzter Zeit nicht mehr nachdenken.“
„Und wie steh’ ich dann da? Wenn schon der Sohn vom Religionslehrer nicht mehr in die Kirche geht. Sagen dann die Leute nicht, dass…“
„War es dir nicht immer egal, was die Leute sagen?“ Jonas setzte sich im Bett auf.
„Du hast Recht. Ich bin ein bisschen durcheinander, du hast mich eben einfach überrascht. Ich geh dann mal.“
Herr Dornbusch zog Jonas’ Tür hinter sich zu, klopfte zaghaft und öffnete sie dann noch einmal. „Vielleicht kommst du ja nächsten Sonntag wieder mit?“

Jonas versuchte tatsächlich über Gott und die Welt nachzudenken. Allerdings blieb es beim Versuch. Tagsüber blockierte die Angst jeden klaren Gedanken und schnürte seinen Brustkorb zu. Fast noch schlimmer waren die nächtlichen Albträume, die ihn seit Wochen quälten:

Er steht am Fuß eines Berges, von oben donnern haushohe Schneekugeln herab, überrollen ihn, reißen ihn mit und zermalmen ihn.
In einem anderen Traum sieht er das Mädchen mit der weißen Jacke und der roten Mütze durch die Stadt stolpern. Ein kalbsgroßer, knurrender Blindenhund führt sie. „Wo ist der Dreckskerl?“, schreit sie, ihr Blindenstock saust dabei wie ein Schwert durch die Luft. Als der Hund ihn aufgespürt hat, nimmt sie der Bestie den Maulkorb ab und brüllt „Fass!“

Jonas saß senkrecht im Bett. Die Uhr neben ihm zeigte 4:30 Uhr. Viel zu früh zum Aufstehen. Aber er konnte keine weiteren Albträume ertragen. Er ging in die Küche und goss sich ein Glas Wasser ein. Das verschwitzte T-Shirt klebte an ihm. Er öffnete das Küchenfenster. Milde Frühlingsluft schwappte ins Zimmer, die ersten Vögel zwitscherten schon. Erschöpft sank er auf die Küchenbank, dann fielen ihm die Augen zu. Nach einiger Zeit hörte er das Pfeifen. Ein Pfeifen, das mit einem hohen Ton beginnt und immer tiefer wird, wie ein Schneeball, der im Bogen vom Himmel fällt und dann zerplatzt. „Nein, David!“, schrie Jonas und riss die Augen auf.
Sein Vater stand pfeifend vor der Kaffeemaschine.
„Moin, Großer. Schläfst du seit Neuestem in der Küche?“
„Nein, eigentlich nicht.“
„Was ist bloß los dir? Du hast dich total verändert. Hast mit Handball aufgehört, spielst dafür Geige, kannst nicht mehr schlafen.“
„Nix ist los, Papa!“
„Nix sieht anders aus, Jonas.“
„Ich hab gerade keine Lust auf Handball. Und du wolltest doch schon immer, dass ich wie Mama Geige lerne.“
„Schon, aber ich wollte nie, dass du mit Handball aufhörst.“
„Aber ich will es“, sagte Jonas trotzig.
„Kann ich dir irgendwie helfen? Gestern Abend hat dein Trainer schon wieder angerufen, ob er was für dich tun könnte.“
Jonas schwieg und starrte auf die Spülbürste, die neben der Spüle hing.
„Hast du einfach Pubertät?“ Herr Dornbusch versuchte es mit einem Witz, doch Jonas verdrückte sich wortlos ins Bad. Sein Vater schaute ihm lange ratlos nach.
Mit bleischweren Beinen schleppte sich Jonas in die Schule. In der zweiten Stunde wartete ein Diktat, was seine Schritte auch nicht gerade beflügelte. Murat stand mit Schicke, Jim und den anderen Handballern vor der Schule. Bestimmt ging es um das Spiel vom Wochenende, so wie sie gestikulierten hatten sie wieder verloren. Als sie Jonas kommen sahen, drehten sie sich um und gingen zu den Tischtennisplatten. Murat wartete alleine am Zaun auf seinen Freund.
„Langsam wird’s ungemütlich, Alter. Auch für mich.“
„Habt ihr wieder verloren?“, fragte Jonas.
„Ja, dicke Packung. Aber ich mein’ nicht nur Handball.“
„Was denn noch?“ Jonas konnte es sich eigentlich denken, fragte aber trotzdem.
„Die Jungs machen mir Stress, weil wir noch befreundet sind!“
„Tut mir leid.“
„Muss dir nicht leid tun. Aber du musst jetzt die Sache mit diesem Affenarsch in den Griff kriegen, ich schwör’s dir!“
„Will ich ja!“
„Hast du mit deinem Vater geredet?“, fragte Murat.
„Geredet schon, aber nichts gesagt.“
„Hä?“
„Ich konnte nicht!“
„Wieso?“
„Keine Ahnung. Ging halt nicht.“ Jonas gähnte.
„Leicht machst du es einem gerade nicht!“ Ratlos zog Murat die Schultern hoch.
Es klingelte und die beiden trotteten schweigend in die Klasse.

Das Diktat in der zweiten Stunde war gespickt mit Gemeinheiten, so dass der hundemüde Jonas schon beim Schreiben den roten Lehrerstift in seinem Heft leuchten sah.
Nach der Pause sollten sie Vierergruppen bilden, um an Referaten zum Thema „Im alten Rom“ zu arbeiten. Jonas ging suchend durch das Klassenzimmer. Doch immer, wenn in einer Gruppe schon ein Handballer war, schüttelte der energisch den Kopf.
„Das ist Mobbing!“, rief Jonas verzweifelt.
„Was ist Mobbing?“, fragte Frau Wesel-Breitbach, die Geschichtslehrerin.
„Nix ist Mobbing!“, rief Jim, ging zu Jonas und sagte leise: „Wenn du wieder Handball spielst oder wenn du uns wenigstens erklärst, warum du nicht mehr spielst, dann ist die Welt wieder in Ordnung. Wenn nicht: Hör auf zu jammern.“
Schließlich arbeitete Jonas mit Murat, Leonie und Tom zusammen.
„Du schon wieder. Was für eine Ehre“, sagte Tom.
„Halt’s Maul!“, schnauzte ihn Jonas an.
Der Vormittag zog sich wie ein alter römischer Baumharz-Kaugummi, nach sechs endlos langen Stunden war die Schule endlich aus. Jonas und Murat machten sich auf den Heimweg, David hatte vor der Schule gewartet und folgte ihnen mit etwas Abstand.
„Willst du bei mir Mittag essen?“, fragte Jonas seinen Freund.
„Ne, meine Mutter geht mit Aylin zum Arzt und ich passe auf die Zwillinge auf. Tschüss, bis morgen.“ Murat bog an der nächsten Ecke ab.

8. Kapitel: Ein Vollpfosten wird sauer

„Endlich ist der Blödmann weg!“ David hatte zu Jonas aufgeschlossen. „Also, den silbernen Benz da vorne kratzt du!“
„Ich will nicht!“
„Weiß ich. Du musst aber!“
David verzog das Gesicht zu einem falschen Lächeln, dann pfiff er den Bogenpfiff und ploppte.
„Ich kann nicht!“
„Elendes Weichei! Ich zeig’ dir noch einmal, wie es geht. Und du guckst, dass keiner kommt!“
David holte seinen Schlüssel aus der Tasche und ging mit entschlossenem Blick auf den Mercedes zu. Er lief so dicht an dem Auto vorbei, dass von hinten nicht zu erkennen war, dass er es zerkratzte. Jonas folgte ihm zögerlich. An der nächsten Straßenkreuzung blieb David stehen.
„Ich kann nicht mehr!“, sagte Jonas, als er David eingeholt hatte.
„Was kannst du nicht mehr?“
„Autos zerkratzen“, antwortete Jonas leise.
„Hast du noch nie gekonnt!“
„Ich möchte, dass du mich in Ruhe lässt. Außerdem ist Murat kein Blödmann.“
„Vergiss es: Mein Wille geschehe!“, sagte David und schubste Jonas.
„Lass mich endlich in Ruhe, du Vollpfosten!“ Jonas schubste zurück.
„Was hast du gesagt?“ Mit rotem Kopf ging David auf Jonas los. Er rannte ihn um, begrub ihn unter sich und prügelte wie von Sinnen auf ihn ein. Jonas hielt die Fäuste schützend über sein Gesicht, trotzdem schmeckte er Blut auf seinen Lippen.
Ein Polizeiauto fuhr langsam vorbei, stoppte, die Rückfahrscheinwerfer leuchteten auf. Der Streifenwagen setzte zurück, ein Polizist stieg auf der Beifahrerseite aus.
„Was soll das, Jungs?“
David zuckte mit den Schultern, Jonas sagte: „Er hat gesagt, die Offenbacher Kickers wären ein Scheißverein.“
„Auch wenn er wahrscheinlich Recht hat: Wegen so was muss man sich doch nicht prügeln!“ Der Polizist zog ungläubig die Augenbrauen hoch. „Sagt mal: Gerade eben wurde hier ein silberner Mercedes zerkratzt. Habt ihr etwas beobachtet?“
Die Jungen schüttelten einträchtig den Kopf.
„Komm, wir fahren dich heim mit deiner blutigen Lippe.“
„Das ist nett, aber es geht schon!“, sagte Jonas.
„Keine Widerrede, sonst muss ich dich verhaften.“
Der Polizist zwinkerte Jonas zu und schob ihn auf den Rücksitz.
„Wo wohnst du denn?“
Jonas nuschelte die Adresse. Je näher sie der Dornbuschwohnung kamen, umso mehr sank er auf der Rückbank zusammen.
„Deine Mutter wird dich bestimmt gut verarzten. Und bis du heiratest, ist deine Lippe wieder in Ordnung.“ Der Polizist am Steuer betrachtete ihn durch den Rückspiegel.
Jonas schüttelte den Kopf.
„Was heißt das?“, fragte der Polizist. „Du willst nicht heiraten?“
„Meine Mutter ist seit neun Jahren tot“, nuschelte Jonas.
„Oh, das tut mir leid. Dann zum Arzt?“
Jonas schüttelte den Kopf. „Mein Vater kommt bald heim.“
Sie fuhren schweigend weiter.
„Hier können sie mich rauslassen!“ Jonas wollte nicht direkt vor dem Hauseingang aus einem Streifenwagen steigen.
Der Wagen stoppte, Jonas bedankte sich und stieg aus. Er lief die letzten Meter, schloss die Haustür auf und schleppte sich die Treppe hoch. Bei jedem Schritt stachen tausend kleine Männlein rasiermesserscharfe Nadeln in seine Lippe.

9. Kapitel: Klärendes Gespräch an der Kläranlage

Jonas pfefferte den Rucksack vor die Garderobe und steuerte den Spiegel im Bad an. Es sah noch schlimmer aus als es sich anfühlte. Die untere Lippe war aufgeplatzt und geschwollen, sein T-Shirt war blutrot gebatikt.
„Verdammt! Irgendwann lande ich wirklich noch im Gefängnis!“ Er sprach mit seinem ramponierten Spiegelbild. „Oder gleich im Irrenhaus!“
Er wählte Murats Nummer.
„Was geht ab, Alter?“, begrüßte ihn Murat, im Hintergrund kreischten die Zwillinge.
„Wir müssen uns treffen!“, sagte Jonas.
„Wieso redest du so komisch?“
„Schick doch mal die Brüllaffen auf den Balkon, dann verstehst du mich auch. Wir müssen uns im Lager treffen.“
„Ich kann erst in einer Stunde. Meine Mutter ist doch weg.“
„Gut, ich warte da auf dich.“ Jonas drückte das Gespräch weg.
Sein Magen knurrte. Mit Rücksicht auf die dicke Lippe zog er aber hungrig los.
Im Lager sank er auf seinen Stuhl und legte die Füße auf den Tisch. Cool wie ein Privatdetektiv, der gerade seinen schwersten Fall gelöst hat. Oder wie ein Sheriff, der die gefährlichste Bande des Wilden Westens hinter Schloss und Riegel gebracht hat. Im wirklichen Leben fühlte er sich aber schwach und klein und ängstlich. Trotz der Füße auf dem Tisch.
Er stützte sein Kinn in die Hand und berührte dabei versehentlich die geplatzte Unterlippe. Innerhalb von Millisekunden funkten alle Schmerzrezeptoren in seinem Körper SOS, Tränen schossen in seine Augen, sein Herz raste, instinktiv hielt er die Luft an. Eine gefühlte Minute danach nahm er erst wieder einen tiefen Atemzug. Der vertraute Gestank des Faulbeckens, das Brummen der Pumpen und Plätschern des Wassers beruhigten seinen Puls etwas.
Jonas hörte Schritte, Äste wurden beiseitegeschoben, kratzten an Kleidungsstücken und peitschen in ihre ursprüngliche Lage zurück. Murat kämpfte sich aus dem dichten Gestrüpp und erstarrte. „Wie siehst du denn aus?“
„David“, stieß Jonas hervor und zog die Schultern hoch.
Murat blieb stehen und trat von einem Bein aufs andere.
„Jetzt kriegt er aber auch aufs Maul! Ich schwör’s dir!“
„Ich könnte ja mit meinem Vater in eine andere Stadt ziehen. Dann hätte ich Ruhe vor David.“ Jonas zog die Nase hoch.
„Und deine Albträume bleiben hier und ziehen nicht mit um? Das glaubst du doch selbst nicht!“
„Aber was soll ich nur machen?“ Jonas schaute seinen Freund verzweifelt an.
„Du musst rauskriegen, ob das Mädel blind ist oder nicht.“
„Und wenn sie’s ist?“
„Mann, Jonas. Dann weißt du es wenigstens. Vielleicht ist sie ja auch nicht blind und du machst dir das Leben umsonst zur Hölle.“ Murat wurde richtig wütend.
„Aber ich kenn‘ sie doch nicht. Wie soll ich das rauskriegen?“
„Sonst bist du doch auch nicht auf den Kopf gefallen. Geh zur Zeitung und frag nach. Die haben doch so’n Archiv oder wie das heißt. Oder guck im Internet.“
Murat sank in seinen Stuhl und schnalzte mit der Zunge.
„Ich hab’s. Du rufst die Johanniter an.“
„Sieht meine Lippe so schlimm aus?“
„Bist du völlig Banane? Doch nicht wegen deiner Lippe! Der Krankenwagen war doch von den Johannitern!“
„Und wenn sie erst im Krankenhaus blind geworden ist? Dann wissen das doch die Johanniter nicht!“
„Wenn, wenn, wenn. Quatsch nicht rum, tu was!“ Murat donnerte die Faust auf den Tisch. Dann zog er sein Handy aus der Tasche und wischte und tippte wild darauf herum.
„Was machst du?“, fragte Jonas.
„Ich suche die Nummer von den Johannitern“, sagte Murat.
„So, da ist sie. Los, ruf an!“ Er hielt Jonas das Handy hin.
„Ne, die sehen doch deine Nummer in ihrem Display“, sagte Jonas.
„Ich unterdrück’ meine Nummer.“
Murat ging kurz in die Einstellungen, dann hielt er sein Handy Jonas erneut vor die Nase: „So, jetzt gibt es keine Ausreden mehr!“

10. Kapitel: Erster Anruf: Wichtig

Eine tiefe Stimme meldete sich: „Johanniter…“, mehr hörte Jonas nicht, weil er das Gespräch wegdrückte.
„Was?“, fragte Murat.
„Nichts“, antwortete Jonas.
„Verdammt, sollen die Albträume verschwinden oder nicht?“
„Schon gut, aber brüll nicht so!“
Jonas stöhnte und drückte die Wahlwiederholung.
„Johanniter Unfallhilfe, was kann ich für Sie tun?“, meldete sich wieder die tiefe Stimme.
„Äh, mein Name ist, ich äh heiße, wissen sie vielleicht, was mit dem Mädchen ist, die mit dem Schneeball?“
„Schneeball? Was für ein Schneeball? Wenn ich aus dem Fenster schaue, haben wir den schönsten Frühling!“
„Doch nicht jetzt, im Januar, am fünfzehnten. Hinter der Bushaltestelle in der Schumacherstraße. Die Johanniter sind damals mit Blaulicht gekommen.“
„Wieso willst du das wissen?“
„Weil“, Jonas schluckte, „weil ich den Schneeball geworfen habe.“
„Ich darf dir am Telefon keine Auskünfte geben.“
„Ich muss es aber wissen! Ich hab seitdem die schlimmsten Albträume!“
„Tut mir leid, ich habe eine Schweigepflicht über unsere Einsätze.“
„Danke“, sagte Jonas leise und ließ das Handy in Zeitlupe sinken.
„Was hat er gesagt?“, platzte es aus Murat heraus.
„Er hat gesagt, dass er nichts sagen darf.“
„Vielleicht nur am Telefon. Dann gehen wir jetzt hin.“
„Wohin?“, fragte Jonas.
Murat schaute flehentlich zum Himmel. „Zu den Johannitern! Und wir gehen erst wieder, wenn du weißt, was mit dem Mädel ist!“
„Meinst du wirklich?“
„Ja, Alter, ganz wirklich. Und zwar jetzt.“
Murat bearbeitete wieder sein Handy.
„Danziger Straße 170. Kenn’ ich, ist nicht weit.“
Murat stand auf und zog seinen Freund aus dem Plastikstuhl. Schneller als Jonas lieb war standen sie vor der Rettungswache. Murat hielt die Tür auf, Jonas blieb zögernd davor stehen.
„Los jetzt!“, zischte Murat und zog seinen Freund am Ärmel über die Schwelle.
„Na, was ist denn mit deiner Lippe passiert?“, rief der Mann in der Zentrale freundlich und winkte die beiden herein. Er war von Telefonen und Bildschirmen umgeben.
„Eigentlich bin ich nicht wegen meiner Lippe hier. Ich bin wegen dem Schneeball gekommen.“
„Ach, dann haben wir eben telefoniert. Ich bin Herr Faber. Wie heißt du?“
„Jonas Dornbusch.“
„Tja, lieber Jonas, leider darf ich dir auch persönlich nichts sagen.“
„Sie müssen aber!“, mischte sich Murat ein. „Seit diesem beschissenen Schneeballwurf wird er verprügelt und erpresst und unsere Handballmannschaft verliert auch nur noch.“
„Ich will mich entschuldigen und fragen, wie es ihr geht“, sagte Jonas flehend.
Herr Faber schnaufte schwer, dann lächelte er gequält. „Ich habe nach unserem Telefonat im Computer nachgeschaut. Ich gebe dir ihre Telefonnummer, obwohl ich es absolut nicht dürfte. Aber in diesem Fall“, Herr Faber zog die Stirn in tiefe Falten und schielte über den Rand der Lesebrille auf Jonas‘ Lippe, „scheint es richtiger zu sein, etwas Verbotenes zu tun.“
Er reichte Jonas einen kleinen Zettel mit einer Nummer.
„Und jetzt rufe ich einen Sanitäter, der nach deiner Lippe schaut“, sagte Herr Faber.
Als die beiden Jungen die Johanniter verließen, hielt ein Klammerpflaster Jonas‘ Lippe zusammen und seine rechte Hand einen kleinen Zettel. Wie einen wertvollen Schatz.

11. Kapitel: Zweiter Anruf: Noch wichtiger

„Geht doch!“, sagte Murat. „Und jetzt rufst du das Mädel an.“
„Jetzt?“ Jonas‘ Gesicht wurde schlagartig weiß wie fettarme Milch. „Oh, mein Gott!“ Er sank auf eine Parkbank.
„Vielleicht hilft er dir ja beim Telefonieren.“
„Wer?“
„Dein Gott.“
„Murat, hör auf mich zu verarschen!“
„Ich meine es ernst. Du musst halt dran glauben. An was glaubst du eigentlich?“
„Wenn ich das wüsste! Momentan frag ich mich sogar, ob es Gott überhaupt gibt. Oder ob sich die Menschen ihn nur ausgedacht haben.“
„Und wie soll dann die ganze Welt entstanden sein?“, fragte Murat von oben, er hatte sich auf die Lehne der Parkbank gesetzt.
„Urknall, Zufall, Evolution, weiß der Geier!“
„Und vor dem Urknall?“, bohrte Murat.
„Weiß ich doch auch nicht. Aber stell dir mal vor, der Papst stirbt und merkt dabei, dass alles nur Theater war! Dass es gar keinen Gott gibt, keinen Jesus, dass die Bibel nur ein ausgedachtes Geschichtenbuch ist. Und dann? Denkst du so was nie, wenn du in der Moschee bist?“
„Ne, auf so Ideen bin ich noch nie gekommen. Mein Vater würde mir aber gewaltig in den Arsch treten, wenn ich so was laut sagen würde.“
„Ich frag‘ mich immer mehr, was ich da tue, wenn ich in der Kirche bin oder wenn ich als Messdiener am Altar stehe. Das ist für mich alles so starr und tot, wie die da ihre Gebete und Sprüche aufsagen.“
„Jetzt lass aber mal stecken, Jonas. Hast du mit deinem Schneeball nicht schon genug zu schaffen?“
„Eigentlich schon. Aber es nervt mich, wenn ich was nicht genau weiß“, sagte Jonas.
„Hoho, der Herr Lehrersohn muss es mal wieder genau wissen.“
„Ich würde es halt gerne wissen, nicht nur glauben, dass es so was wie Gott gibt.“
„Dann probier doch, ob Gott dir hilft, auch wenn du nicht sicher bist, ob es ihn überhaupt gibt.“ Murat grinste verschmitzt.
„Versteh ich nicht.“ Jonas schüttelte den Kopf.
Murat zeigte auf Jonas’ Handy. „Glaubst du an WLAN, Bluetooth, mobile Daten, elektrischen Strom? Du nutzt den Kram, aber hast du es je gesehen?“
„Der Vergleich ist grottig, das ist alles was Technisches und das kann man messen.“
„Du nervst, Alder. Schalt doch mal den Kopf aus. Vielleicht kann man Gott nur mit dem Herzen messen. Ich bin mir einfach sicher, dass er da ist.“ Murat zeigte mit dem Daumen nach oben.
„Guck, Jonas, Daumen hoch zeigt auf Gott. Jetzt ist alles gut. Daumen runter zeigt zur Hölle, dann ist alles scheiße. Du lebst gerade in der Hölle. Und du machst dir das Leben zur Hölle!“
„Daumen hoch und Daumen runter, erzählen sie dir das in der Moschee?“
„Probier’s halt aus. Gib deinem Gott eine Chance. Lass ihn dir beim Telefonieren helfen“, schlug Murat vor. „Vielleicht hilft er dir ja.“
„Wie soll das gehen?“
„Bitt’ ihn halt drum!“
„Und das geht?“
Murat bekam seinen ungeduldigen Blick: „Verdammt, der liebe Gott ist nicht nur in der Kirche oder in der Moschee, der freut sich, wenn er dich auch mal im wirklichen Leben trifft.“

Jonas stand auf. „Du predigst ja wie mein Vater, Sackzement noch mal. Aber ich geh jetzt telefonieren. Ob mit oder ohne Gott!“
„Auf jeden Fall mit mir!“, sagte Murat grinsend.
„Oh, mein Gott!“ Jonas stand auf, boxte Murat ins Gerippe und verzog die geklammerte Lippe zu einem Lächeln.
„Wo willst du hin?“, fragte Murat.
„Heim. Falls ich beim Telefonieren in Ohnmacht falle.“

Je näher sie der Dornbuschwohnung kamen, umso langsamer ging Jonas. Die drei Etagen im Treppenhaus fühlten sich an wie die Besteigung des Mount Everest ohne Sauerstoffgerät. Seine Finger zitterten, als er den Schlüssel im Schlüsselloch versenken wollte. Diesen Schlüssel, der in letzter Zeit auch Tatwerkzeug gewesen war. Jonas nahm das Telefon von der Ladestation und ließ sich in seinen Sitzsack fallen. Sein Herz raste, eiskalte, schweißnasse Finger. Er holte tief Luft, wie beim Handball vor einem Siebenmeter. Dann tippte er die ersten Ziffern, jede mit einer tiefen Atempause. Rote Taste, Startabbruch, Bruchlandung. Wütend schleuderte Jonas das Telefon aufs Bett.
„Oh mein Gott, ich schaff’ das nicht!“, rief er verzweifelt.
„Dann schwör deinem Gott doch etwas!“, schlug Murat vor und holte das Telefon vom Bett.
Jonas überlegte kurz und sagte: „OK, ich schwöre, dass ich mir zum nächsten Geburtstag nur Geld wünsche und alles weiterschenke, wenn sie nicht blind ist.“
„Korrekt!“ Murat klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern und hielt ihm das Telefon hin. „Und jetzt mach!“
Jonas hämmerte die Nummer mit angehaltenem Atem in das Gerät, dann lauschte er dem Tuten.
„Jessica Jung.“
Jonas‘ Herz raste und schien zu explodieren. Er atmete geräuschvoll aus.
„Hallo? Wer ist da?“, hörte er die Stimme.
Er schnaufte noch mal schwer, ohne sprechen zu können.
„Verdammt, was soll das?“, schimpfte das Mädchen.
„Ich, ich wollte nur wissen, ob du einen Schneeball abbekommen hast“, stammelte Jonas.
„Verdammt, wer bist du?“
„Ich heiße Jonas. Ich habe den Schneeball geworfen.“
„Was soll die Kacke?“, donnerte sie los, dann hörte Jonas ein Tuten. Entsetzt starrte er das Telefon an.
„Sie hat einfach aufgelegt“, stammelte Jonas fassungslos.
„Was hat sie gesagt?“, fragte Murat ungeduldig.
„Sie heißt Jessica. Jessica Jung.“
„Und sonst?“
„Eigentlich nichts. Vielleicht hat sie nichts gesagt, weil sie doch blind ist?“
„Du machst mich wahnsinnig, Jonas! Dann musst du jetzt zu ihr hingehen!“
„Hilfe, da würde ich lieber sterben. Außerdem weiß ich doch gar nicht, wo sie wohnt.“
„Gib mal die Nummer. Es gibt eine Rückwärtssuche, dann spuckt dir das liebe mobile Datenfunkgerät die Adresse aus, wenn du die Nummer eingibst.“ Ungeduldig streckte Murat seinem Freund die Hand entgegen.
„Und das geht in echt?“, fragte Jonas, mehr bang als erstaunt.
„Nicht immer, man kann dieser Funktion bei seinem Anbieter widersprechen. Ich probier’s mal aus.“
Murat ließ die Daumen über das Display fliegen, dann grinste er breit. „Schillerstraße 42, fünf Bushaltestellen mit dem 57’er Richtung Frankfurt. Und der große Gockel weiß auch, dass bei ihr nebenan ein Blumenladen ist.“
„Das schaffe ich nicht.“ Jonas seufzte tief.
„Du musst aber. Denk an deine Albträume. Am besten jetzt, gerade war sie ja zu Hause. Soll ich mitkommen?“
„Ne, aber warte hier auf mich. Bitte!“
Murat stand auf und drückte Jonas. „Mach ich. Und jetzt zisch ab. Du schaffst das!“

Mit rasendem Herzen und weichen Knien saß Jonas kurz darauf im Bus. Der Sitz schien härter als sonst, der Kopfhörer des Jugendlichen schräg gegenüber plärrte unerträglich laut, sein Kaugummigeschmatze widerte Jonas an. Trotzdem wäre Jonas am liebsten den ganzen Tag weiter Bus gefahren. Der 57’er hielt direkt vor dem Blumenladen. Jonas stieg hinten aus und schlich in den Laden, er zuckte zusammen, als die Tür beim Eintreten klingelte.
Mit einem Blumenstrauß für 20 €, dem Taschengeld eines ganzes Monats, verließ er den Laden, wieder zuckte er beim schrillen Klingeln zusammen und zog die Schulter hoch, wie eine bedrohte Schildkröte. Verstohlen schlich er sich nach rechts zur Hausnummer 42, Schillerstraße 42. Da wohnte sie also. „Jung“ las er aus den Augenwinkeln auf dem Klingelschild. Er atmete hektisch und blieb stehen.

Ich schaff das nicht, ich kann da nicht klingeln. Und wenn sie wirklich blind ist? Wie soll ich dann weiterleben? Das übersteh ich nicht. Wieso musste ich diesen beschissenen Schneeball werfen? Und wieso musste die ausgerechnet da rumstehen? Und Murat erzählt mir was von Gott. Jajaj, wo soll der denn bitte schön sein? In der Kirche ist er nicht, da bin ich mir sicher. Hohles Geschwätz, kostümiertes Kasperletheater. Bestimmt hat sie vorhin aufgelegt, weil sie blind ist. Scheiße, dann bring ich mich um. Und wo war der liebe Gott, als Mama bei dem Unfall gestorben ist? Und Papa und sein Gott, seit Mama tot ist um so mehr. Ich brauch keinen Gott. Ich brauch mein Leben zurück. Aber dafür muss ich wissen, ob sie noch sehen kann. Und dafür muss ich klingeln. Da, bei Jung. Schillerstraße 42. Ahhhh, ich schaff es nicht.

Panisch rannte er los. Bei der nächsten Querstraße blieb er stehen.
Ich feiges Arschloch! Was ist das Schlimmste, was passieren kann? Schlimmer als jetzt kann’s wohl nicht werden.
Er drehte um, lief wie ferngesteuert, blieb vor dem Haus stehen, hielt die Luft an, spürte die metallische Kühle des Klingelknopfes und drückte.
Die Tür wurde geöffnet. Ein etwas 15 jähriges Mädchen mit langen blonden Haaren öffnete die Tür.
Sie starrte ihn an.
„Ich, ich bin Jonas…“
„Aha.“ Sie musterte ihn und vor allem seine Lippe. „Wie siehst du denn aus?“
„Kannst du noch sehen oder bist du blind?“
„Mit Logik hast du es nicht so, oder? Wenn ich dich frage, wie siehst du denn aus, was könnte das bedeuten?“
„Schon gut, ich, ich kann gerade nicht so klar denken.“ Er streckte ihr den Blumenstrauß entgegen. „Es tut mir leid. Ich wollte den Bus treffen.“
„Soso, den Bus.“ Jessica zog die Augenbrauen hoch.
„Und weshalb war damals der Krankenwagen da?“
„Weil“, Jessica grinste und zeigte auf eine kleine Narbe an ihrer Unterlippe, „ich genauso ausgesehen hab’ wie du heute. War ’ne ordentliche Schweinerei, wie das geblutet hat.“
„Ich hatte so krasse Angst, dass du blind bist. Ich hatte übelste Albträume. Warum hast du vorhin aufgelegt?“
„Na hör’ mal, ich war sauer, ist doch klar. Erst hör ich gar nichts von dem Arsch, der geworfen hat. Dann plötzlich nach Monaten ein wildes Geschnaufe am Telefon und irgendein Jonas jammert, er hätte den Schneeball geworfen. Das hab’ ich nicht gebraucht.“
„Es tut mir so leid…“
„Das hatten wir schon. Jetzt mach dich mal locker. Ich lebe ja noch. Mit vier Stichen bin ich genäht worden.“
Peinliche Stille, Jonas starrte verlegen auf seine Schuhspitzen.
„Wieso bist du weggerannt?“, fragte Jessica.
„Ich hatte Angst, und irgendwie einen Schock.“
Schweigen.
„Wie kann ich das wieder gutmachen?“, fragte Jonas leise.
„Auf Blumen stehe ich nicht so. Wie wäre es mit einem Amazongutschein?“
„Klar, ist ja viel besser“, sagte Jonas schnell.
„Die Blumen nimm lieber wieder mit. Mein Freund ist ziemlich eifersüchtig!“
Gehorsam nahm Jonas den Blumenstrauß zurück. „Ich schick dir den Gutschein“, rief er und stürmte Richtung Bushaltestelle, ohne sich zu verabschieden, ohne sich noch mal umzublicken.
„Und was ist mit deiner Lippe? Ein Schneeball kann’s ja nicht gewesen sein?“
Jonas schüttelte im Laufen den Kopf. Weil kein Bus zum Einsteigen bereit stand, flüchtete er weiter, weg von hier, immer weiter.
Er rannte mit pochender Lippe, immer weiter, bis nach Hause, den Blumenstrauß wie einen Staffelstab in der Hand. Die unerträgliche Anspannung und die Erleichterung, dass sie nicht blind war, mussten in Bewegung umgesetzt werden.
Zuhause drückte er strahlend als erstes Murat die Blumen in die Hand. „Da mein Freund, für dich!“
„Ich fasse es nicht, du hast es also nicht geschafft!“, rief Murat entsetzt.
„Doch!“ Haarklein erzählte Jonas von dem Gespräch mit Jessica.
„Und dann hab’ ich mich noch nicht mal von ihr verabschiedet!“
Plötzlich stand Herr Dornbusch im Wohnzimmer.

12. Kapitel: Pizza und kalte Nudeln

„Von welcher ihr hast du dich nicht verabschiedet? Ist der Herr Sohn etwa verliebt?“, fragte Herr Dornbusch und betrachtete den Blumenstrauß. Jonas drehte sich um.
„Was hast du denn geschafft?“, fragte sein Vater erschrocken.
„Halb so wild. Aber ich muss dir was beichten.“
Herr Dornbusch starrte seinen Sohn mit offenem Mund an.
„Ich habe im Januar ein Mädchen mit einem Schneeball getroffen. Es kam sogar der Krankenwagen. Aber sie ist nicht blind!“
„So, so, nicht blind.“ Herr Dornbusch war blass geworden.
„Und ich habe bei Autos den Lack zerkratzt.“
„Spinnst du?“, brüllte Herr Dornbusch, seine Halsadern schwollen an und die Gesichtsfarbe wechselte von weiß nach rot.
„Ich habe in der Schule einen guten Ruf zu verlieren, da kann doch nicht mein Sohn Autos zerkratzen. Warum machst du so einen Scheiß?“
„Ich wurde gezwungen“, antwortete Jonas leise.
„Soll ich euch alleine lassen?“, fragte Murat und trippelte nervös von einem Fuß auf den anderen.
„Ne, bleib ruhig hier“, sagte Herr Dornbusch.
„Sorry, dass ich so explodiert bin. Es war total stressig mit den Neuntklässlern eben.“ Er setzte sich hin. „Wer hat dich denn gezwungen?“
„David.“
„Der David aus der 7b? Und was hat der Schneeball mit den zerkratzten Autos zu tun?“
„Ne Menge. David hat mich erpresst. Weil sein Vater pleitegeht.“
Herr Dornbusch seufzte.
„Das hört sich nach einer längeren Geschichte an. Ich schlage vor, wir gehen in die Pizzeria. Halb sechs,“ er schaute auf seine Uhr, „die müssten schon auf haben. Da könnt ihr mir alles in Ruhe erzählen.“
Eine halbe Stunde später saß der Religionslehrer vor einer Pizza „Diavolo“ und hörte einfach nur zu. Murat verdrückte eine große Doppelkäsepizza, vor Jonas stand, aus Rücksicht auf die lädierte Lippe, ein Teller Nudeln, die immer kälter wurden. Denn Jonas erzählte und erzählte. Als er geendet hatte, fühlte er sich völlig ausgelutscht, aber auch leicht wie eine Feder. Dann hingen alle drei ihren Gedanken nach.
Jonas hörte die Kellnerin in einem Mix aus Deutsch und Italienisch scherzen, er nahm jetzt die Musik und an der Wand das berühmte Bild von Michelangelo wahr: Die Zeigefinger von Gott und Adam, die sich fast berühren. Er kannte es aus dem Arbeitszimmer seines Vaters. Jonas starrte das Bild an und hatte den Eindruck, Funken würden zwischen den Fingern sprühen.
„Und hast du schon eine Idee, wie wir die Welt wieder in Ordnung bringen?“, riss ihn Herr Dornbusch aus seinen Gedanken.
„Ich kaufe für Jessica einen Gutschein“, antwortete Jonas.
„Und wir müssen zur Polizei gehen. Wegen der beschädigten Autos“, sagte Herr Dornbusch.
„Muss das sein?“, fragte Jonas.
„Ja, natürlich. Aber vorher rede ich noch mit Davids Vater. Außerdem kommt mir da gerade eine Idee.“
„Und die wäre?“, fragte Murat.
„Unsere Kirchengemeinde sucht einen gebrauchten Neunsitzer. Vielleicht kann uns Davids Vater einen verkaufen.“ Herr Dornbusch lächelte verschmitzt.
„Und ich schenke alles Geld, was ich zum Geburtstag kriege, blinden Menschen“, sagte Jonas.
Herr Dornbusch nickte anerkennend.
„Aber Papa, bevor wir zur Polizei gehen und du mit Davids Vater sprichst, lass mich noch die Sache mit ihm regeln.“
„Dann beeil dich aber, dass wir möglichst schnell zur Polizei gehen können“, sagte Herr Dornbusch.
„Brauchst du Hilfe?“, fragte Murat.
Jonas schüttelte den Kopf. „Nein, höchstens von ganz oben.“ Er schaute zum Himmel und bekreuzigte sich.
„Verarsch mich nicht!“, sagte Murat.
„Halleluja. Ich verstehe nur noch Bahnhof! Die Rechnung bitte.“
Herr Dornbusch winkte der Kellnerin.

13. Kapitel: Kratz die Kurve, nicht die Autos

Drei Tage später rutschte Jonas unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Immer wieder fuhr er sich mit der Hand in die Hosentasche. Murat saß neben ihm und versuchte die Erklärungen des Mathelehrers zu kapieren.
„Lass doch mal deine Hose in Ruhe!“, zischte er genervt.
„Ich muss nur dauernd gucken, ob er noch da ist!“, antwortete Jonas leise.
„Keine Angst, er fällt nur ganz selten ab!“, flüsterte Murat und grinste.
„Blödmann, ich meine doch den Brief!“
„Habt ihr beiden es nicht nötig aufzupassen?“, fragte der Mathelehrer.
„Doch, doch!“, beschwichtigte Jonas. Gleichzeitig kramte er vielleicht zum hundertsten Mal den Brief aus der Tasche und las:

Hallo Jonas,
ich fand es natürlich voll daneben, dass du nach deinem Schneeballwurf weggerannt bist. Was glaubst du, wie oft ich dich und deine miese Feigheit seitdem verflucht habe, wenn ich vor dem Spiegel gestanden und die Narbe über der Lippe angestarrt habe. Aber letzte Woche hat mein Freund gesagt, dass er die Narbe eigentlich ganz süß findet.

Also jetzt noch mal schriftlich (es scheint dir ja ganz wichtig zu sein): ICH BIN NICHT BLIND.
Ich finde es gut und mutig, dass du dich dann doch noch bei mir gemeldet hast. Hoffentlich hast du was draus gelernt.
Und danke für den Gutschein.
Jessica

Lächelnd faltete Jonas den Brief zusammen und fummelte ihn zurück in die Hosentasche. Seine nächtlichen Albträume waren verschwunden wie ein Schneemann in der Märzsonne. Jetzt blieb nur noch die Sache mit der Polizei und – David.
Der Gong beendete die Mathestunde.
„Endlich!“, stöhnte Murat. „Lass uns hier auschecken.“
Murat und Jonas schulterten die Rucksäcke und stürmten hinaus in den warmen Frühlingstag. Die Vögel zwitscherten und die beiden liefen im T-Shirt nach Hause.
„Alter, guck mal in den Rückspiegel“, sagte Murat.
Jonas drehte sich um. Hinter ihnen schlich David mit grimmiger Miene.
„Dann soll es jetzt wohl sein. Ich bring’s hinter mich!“, zischte Jonas.

Sie waren bei Murat angekommen.
„Kommst du wirklich alleine klar?“, fragte er.
„Ich hoffe“, antwortete Jonas und schluckte. „Aber vielleicht bin ich ja gar nicht alleine?“ Zögernd streckte er den Daumen nach oben.
„Du bist nie alleine!“ Murat schlug Jonas auf den Rücken, dann streckte er ebenfalls den Daumen nach oben.
„Was machst du heute noch?“, fragte Jonas.
„Na, Training. Heute ist doch Donnerstag“, sagte Murat.
„Stimmt, da war ja was. Dann mal viel Spaß beim Training!“
Jonas überprüfte zum tausendsten Mal den Inhalt seiner Hosentasche. David kniete auf dem Bürgersteig und band seine Schnürsenkel. Jonas ging weiter und sah aus den Augenwinkeln, wie sich David erhob. Jonas‘ Herz schlug schneller, die Hände wurden feucht. Ein bogenförmiger Pfiff ertönte, der tiefe Schlusston wurde von einem hohlen Ploppen abgelöst. Schlagartig war die ganze Angst wieder da. Angst, dass David ihn verpetzt, Angst, dass das Mädchen blind ist, Angst, beim Autozerkratzen erwischt zu werden, Angst, seinen Vater zu enttäuschen. Er griff in die Hosentasche und fühlte den Brief. Er wurde ruhiger. Und zornig. Zornig auf David, dass er ihn erpresst und verprügelt hatte. Und richtig zornig auf sich selbst, dass er dieses miese Spiel aus Feigheit so lange mitgespielt hatte.
„Kratz den schwarzen BMW da vorne!“, sagte David leise von hinten. Jonas drehte sich um.
„Kratz die Kurve, nicht die Autos“, brüllte er.
„Was Sprüche! Tickst du noch ganz richtig?“ David baute sich breitbeinig vor ihm auf.
„Ich kratze nie mehr Autos!“ Jonas blieb stehen.
„Du willst also, dass ich zur Polizei gehe?“ David stemmte die Fäuste in die Hüften.
„Geh doch. Aber dann stellt die Polizei dir auch ein paar Fragen!“
„Spiel hier nicht den Oberschlauen!“, sagte David und holte zu einer saftigen Ohrfeige aus.
Jonas tauchte gedankenschnell weg, die Ohrfeige ging ins Leere und David kam ins Stolpern. Jonas stürzte sich auf ihn, als Knäuel landeten sie auf dem Boden. Der Ringkampf war entschieden, bevor er überhaupt richtig begonnen hatte. Jonas drehte David auf den Bauch, hielt ihm die Hände auf dem Rücken zusammen und saß nun rittlings auf seinem Erpresser. David zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Trotzdem schaffte es Jonas, den Brief aus seiner Hosentasche zu angeln. Er legte ihn vor David auf den Bürgersteig.
„Lies!“, befahl er.
„Behalt’ deine Liebesbriefe für dich!“, sagte David gepresst.
„Lies!“, wiederholte Jonas mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.

„Hallo Jonas, ich fand es natürlich voll daneben, dass du nach deinem Schneeballwurf weggerannt bist“, las David leise und stoßweise. Er wurde ruhiger, hörte ganz auf zu zappeln und Jonas stieg von seinem Rücken. Beide saßen nun auf dem Bürgersteig und Davids Augen wurden immer größer.
„Du, du hast mit ihr gesprochen!“, stammelte er, nachdem er fertig gelesen hatte.
„Ja, und mit meinem Vater. Und zur Polizei gehen wir auch gleich!“ David, mit seinem offenen Mund und den ungläubigen Augen, sah aus, als wäre er gerade aus einem Flugzeug gefallen und hätte versehentlich überlebt. Jonas nahm ihm den Brief aus den Händen.
„Und du“, er bohrte ihm den Zeigefinger in die Brust, „du lässt mich jetzt schön in Ruhe. Und untersteh dich, jemals wieder so blöd zu pfeifen, als würde ein Schneeball fliegen. Dann mache ich dich alle, ich schwöre!“
Jetzt rede ich schon wie Murat, dachte Jonas und grinste. Er stand auf und ging los. Aufrecht, mit federleichten kraftvollen Schritten, mit großem Abstand am schwarzen BMW vorbei, ohne sich noch einmal nach dem am Boden sitzenden David umzusehen.

14. Kapitel: Mannschaftsrat

Jonas lag auf dem Bett. Direkt nach dem Mittagessen war er mit seinem Vater bei der Polizei gewesen. Der selbe Polizist, der ihn mit der blutenden Lippe nach Hause gefahren hatte, nahm das Protokoll auf.
„Okay, du willst mir also nicht sagen, mit wem du die Autos zerkratzt hast, weil du ihn nicht verpetzen willst.“
„Nein, er soll die Chance haben, auch zu ihnen zu kommen und selbst zu sagen, was er gemacht hat“, sagte Jonas.
„Hm, eigentlich deckst du so eine Straftat. Aber gut, wenn innerhalb der nächsten Woche niemand zur Selbstanzeige auf die Wache kommt, muss ich dich noch mal vorladen.“ Der Polizist schaute streng über den Rand seiner Brille.

Erleichtert verließ Jonas mit seinem Vater die Polizeiwache. Jonas saugte die Lungen voll, die Luft schmeckte nach Frühling. Er hätte die ganze Welt umarmen können, fürs Erste umarmte er seinen Vater, der noch einmal in die Schule zu einer Konferenz musste.
„Danke, Papa!“
„Dafür nicht, Jonas. Entschuldige du bitte, dass ich nicht wirklich gemerkt habe, wie dreckig es dir in diesen beiden Monaten ging. Das tut mir leid, da war ich wohl zu sehr mit mir beschäftigt.“
„Jetzt wird ja alles wieder gut“, sagte Jonas, streckte den Daumen nach oben und sagte lächelnd: „Gott sei dank“.

Wie auf Wolken schwebte er heim. Nach dem Essen erledigte er die Hausaufgaben in Rekordzeit. Danach lag er auf dem Bett, stöpselte Kopfhörer in die Ohren und drehte die Musik auf. Er konnte sein Glück noch immer kaum fassen. Ihm wurde ein bisschen schwindelig vor Freude. Da schoss eine Idee durch seinen Kopf. Er schaute auf die Uhr. Noch könnte es klappen.
Jonas packte seine Sporttasche und rannte zur Bushaltestelle. Es klopfte beim Rennen nur noch ein kleines bisschen in der Lippe. Ausgerechnet jetzt hatte der Bus Verspätung. Endlich kam er, vier Stationen danach sprang Jonas aus dem Bus und rannte zur Turnhalle. Diesmal nahm er wieder den richtigen, den vorderen Eingang. Die Umkleidekabine war menschenleer, aber ein Klamotten-Tsunami war schon über sie geschwappt.
Wie immer, dachte Jonas, zog sich hastig um und inhalierte zufrieden den käsigen Kabinenmief. Mit rotem Gesicht öffnete er die schwere Turnhallentür. Der Trainingsbetrieb erstarrte wie eingefroren. Kein Ball prellte mehr auf dem Boden, keine Gummisohle quietschte, Totenstille.
„Dr. Hammer“, brüllte Murat nach Sekunden, die sich wie Jahre anfühlten. Die anderen blieben still. Jim trat vor, stellte sich breitbeinig zwischen Jonas und das Team und fragte: „Was willst du?“
„Na ja, eigentlich trainieren“, sagte Jonas leise.
„Du spinnst wohl!“ Jim stieß ihn mit beiden Händen vor die Brust. „Lässt uns ohne ein Wort im Stich und tauchst einfach wieder auf, als wäre nix gewesen.“ Jim zeigte ihm den Mittelfinger, dann auf die Hallentür. „Lieber verlier’ ich jedes Spiel, als dich wieder in der Mannschaft zu haben!“
Jonas stiegen die Tränen in die Augen, durch einen Schleier sah er den Mannschaftskapitän und sein Team hinter ihm und hörte durcheinanderschwirrende, aufgeregte Sätze.
„Jim hat Recht“, sagte Tom.
„Gewinnen würd’ ich schon gerne mal wieder“, sagte Murat.
„Soll halt was sagen oder sich verpissen!“ sagte Basti.
„Jetzt ist aber mal gut, Jim!“ Das war die Stimme von Herrn Schmitz. „Wer trainiert und spielt, entscheidet immer noch der Trainer! Wir treffen uns im Kreis in der Hallenmitte und dann kann sich Jonas erklären.“
Wild diskutierend trudelten alle im Kreis ein. Links von Jonas saß Murat, rechts Herr Schmitz, die anderen Spieler setzten sich mit möglichst viel Abstand zu Jonas in den Kreis und beäugten ihn skeptisch.
„So, Jonas, dann leg mal los. Wie du merkst, sind wir alle sehr gespannt“, forderte ihn Herr Schmitz auf, als es endlich ruhiger geworden war.
„Ich, ich wollte euch nicht im Stich lassen. Ich hab’ im Januar ein Mädchen mit einem Schneeball getroffen. Sie hat am Kopf geblutet, total heftig, der Krankenwagen kam. Ich hatte Angst, dass sie blind ist. Jemand hat alles gesehen und mich erpresst. Ich musste deshalb Autos zerkratzen.“
„Wer hat dich erpresst?“, fragte Jim.
„Keiner aus der Mannschaft oder aus der Klasse, ist deshalb nicht so wichtig.“ Jonas schüttelte den Kopf.
Namen wurden von den Spielern in den Raum geworfen, alle begannen laut zu diskutieren und zu spekulieren.
„Ruhe, verdammt!“, rief Herr Schmitz. „Jetzt lasst ihn wenigstens fertig erzählen.“ Er wandte sich Jonas zu und sagte: „Das hört sich nach einer heftigen Zeit für dich an. Es erklärt aber nicht, warum du kein Handball mehr gespielt und dein Team ohne Erklärung hast hängen lassen.“
Jonas schluckte. „Ich hatte Angst, viel Angst. Und viele Albträume. Und ich habe mir geschworen, nie mehr was zu werfen. Also auch keinen Handball.“
Die Jungs starrten ihn verständnislos an.
„Was hat ein Schneeball mit einem Handball zu tun?“, fragte Basti. „Das ist doch unlogisch!“
„Ich weiß“, sagte Jonas leise. „Wenn man Angst hat ist vieles unlogisch. Ich habe stattdessen Geigenunterricht begonnen. Die Geige hat meiner Mutter gehört und ich dachte, ich tue damit ein bisschen Buße.“
Die Spieler schüttelten fassungslos die Köpfe und das Gemurmel wurde stärker.
„Und dein Vater?“ Mit dieser Frage sorgte Herr Schmitz wieder für Ruhe.
„Der wusste von nichts. Hat sich auch nur über mich gewundert.“
„Und warum bist du jetzt hier?“, fragte Jim mit vor der Brust verschränkten Armen.
„Weil dieser Albtraum endlich vorbei ist.“ Wieder kamen ihm die Tränen. „Ich weiß endlich, dass sie nicht blind ist. Meinem Vater habe ich alles erzählt und wir waren vorhin bei der Polizei.“
„Musst du in den Knast?“, fragte Ron.
Trotz der Tränen musste Jonas grinsen. „Wir sind zum Glück noch nicht strafmündig. Zeitungen trage ich demnächst aus um die Reparatur von den drei Autos zu bezahlen, die ich zerkratzt habe. So Lackschäden zu reparieren ist scheißteuer.“
Jim stand auf. „Okay. Du wurdest also erpresst, hattest Angst und dir was Komisches geschworen. Aber dass du uns nichts gesagt hast, ey, das geht gar nicht. Wir sind eine Mannschaft, wir gewinnen zusammen, wir verlieren zusammen. Wir hätten dir helfen können. Aber dass du einfach wortlos abhaust, ne sorry, damit machst du uns als Mannschaft klein.“
„Was willst du damit sagen, Jim?“, fragte Herr Schmitz.
„Ich möchte mit der Mannschaft reden. Alleine. Ohne Jonas, ohne Trainer.“
„Okay, dann telefoniere ich solange mit Jonas Vater und Herrn Breitling. Als euer Betreuer gehört er auch mit ins Boot. Aber, damit das klar ist: Wer in der Mannschaft ist, entscheiden Trainer und Betreuer. Nicht das Team und auch nicht der Käpten! Aber ich höre mir gerne an, was ihr zu sagen habt.“
„Dann geht mal aus der Halle. Wir holen dich wieder rein, Jonas“, sagte Jim.
Jonas schaute unsicher zu Murat, der nickte ihm aufmunternd zu. Herr Schmitz legte Jonas die Hand auf die Schulter, als er die schwere Hallentür zum Kabinentrakt öffnete. „Setz du dich mal in eure Kabine. Ich versuche in der Nachbarkabine deinen Vater telefonisch zu erreichen. Wir kriegen die Kuh schon vom Eis.“
Mit zittrigen Knien setzte sich Jonas auf die Bank. Sein Herz raste, die eiskalten Finger waren schweißnass.
„Wenn die jetzt sagen, ich soll mich verpissen? Das halt ich nicht aus, egal was der Trainer entscheidet“, murmelte Jonas.
Eiskalte Angst sickerte in jede Faser seines Körpers, breitete sich gnadenlos aus und erstickte den kleinsten Hoffnungsfunken. Der liebe Gott ist nicht nur in der Kirche oder in der Moschee, hatte Murat gesagt. Gib ihm eine Chance, lass ihn dir helfen.
Jonas faltete die eiskalten Hände.
„Lieber Gott, ich weiß nicht, ob es dich gibt. Aber wenn es dich gibt, hilf bitte mit, dass das hier gut ausgeht. Der Verein ist doch meine Familie, außer meinem Vater natürlich. Bitte lass sie mich nicht rausschmeißen. Amen.“

Das Frösteln wurde weniger. Sein Herz schlug etwas ruhiger, er hatte das Gefühl, nicht mehr ganz alleine mit seinen tonnenschweren Sorgen und Ängsten zu sein.

15. Kapitel: Jonas wirft wieder

Jim öffnete die Kabinentür und sagte mit einem sehr neutralen Gesichtsausdruck, der alles bedeuten konnte: „Kannst reinkommen.“
Obwohl die Angst nun wieder voll da war, zeigte Jonas Murat den erhobenen Daumen, als er sich in den Kreis setzte.
„Sei dir mal nicht so sicher!“, blaffte ihn Jim an.
„Er hat das anders gemeint“, sagte Murat schnell.
„Seid jetzt mal ruhig!“ Herr Schmitz hatte sich nun auch wieder in den Kreis gesetzt. „Und, wie schon gesagt: Ihr entscheidet nicht, ob Jonas im Verein spielt oder nicht. Aber natürlich höre ich mir an, was ihr zu sagen habt.“
Jim stand auf, stellte sich breitbeinig hin und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Es ist so“, begann er, da wurde er von Herrn Schmitz unterbrochen. „Ich höre dir lieber zu, wenn du wie alle anderen sitzt.“
Der Mannschaftskapitän zog genervt die Augenbrauen hoch, setzte sich aber wieder hin.
„Also, es ist so: Wir wissen, es war eine heftige Zeit für Jonas. Okay. Aber mit seinem Verhalten hat er die Mannschaft klein gemacht. Wir spielen zusammen, gewinnen zusammen, verlieren zusammen. Einfach abhauen, das geht nicht. Das heißt doch, er traut uns gar nicht zu, dass wir ihm helfen können.“
„Was willst du damit sagen?“, fragte Herr Schmitz.
Ron kam Jim mit der Antwort zuvor: „Das soll heißen, dass so was nie mehr passieren darf. Wir müssen alle unterschreiben, dass es keine Geheimnisse mehr gibt. Wenn was nicht passt, muss man es sagen. Dann kann die Mannschaft funktionieren.“ Ron hatte beim Reden vor Aufregung rote Flecken am Hals bekommen.
„Und was sagt der Trainer und der Betreuer?“, fragte Jim.
„Tja, Jonas’ Verhalten war der Mannschaft gegenüber unfair und er hat dem Team geschadet. Aber jeder macht mal Fehler. JEDER. Deshalb ist Jonas ab sofort wieder Teil dieser Mannschaft.“
Die Spieler fingen an, mit ihren Nachbarn zu diskutieren.
„Meine Frage an die Mannschaft aber ist: Habt ihr Jonas in den zwei Monaten gefragt, warum er sich so verhält? Ob er eure Hilfe braucht? Oder ward ihr nur sauer, dass er nicht mehr spielt und ihr deshalb oft verloren habt?“
Die Spieler schauten verlegen auf ihre Schuhspitzen.
„Es gibt eine Auflage zur Rehabilitierung. Du hast dem Verein geschadet, Jonas. Deshalb kannst du ihm jetzt was Gutes tun. Die Bambinis suchen einen Trainer. Ich habe mit deinem Vater gesprochen. Er hat es abgesegnet.“
Jonas schaute völlig verdattert aus der Wäsche. „Ich? Trainer?“
„Die könnten ein bisschen Wurftechnik gebrauchen!“ Herr Schmitz lächelte breit. „Und ich kann mir vorstellen, dass du das gut machst.“
„Ich könnte es probieren“, sagte Jonas, dann murmelte er: „Danke, lieber Gott!“
„Was meinst du?“, fragte Herr Schmitz.
„Ach, nichts.“ Jonas atmete lange aus.
„Und mit Herrn Breitling habe ich besprochen, dass die Mannschaft beim diesjährigen Weihnachtsmarkt einen eigenen Stand anbietet. Das Geld, das wir einnehmen, stiften wir für einen guten Zweck. Denn wir als Mannschaft, Trainer und Betreuer eingeschlossen, haben auch nicht alles richtig gemacht.“
„Wieso wir?“, fragte Jim.
„Denk mal in Ruhe drüber nach. Dann reden wir beim nächsten Training darüber“, sagte der Trainer.
„Was wir beim Weihnachtsmarkt einnehmen, spenden wir für blinde Kinder“, schlug Murat vor.
„Gute Idee, sehr gut. Und jetzt mal zurück zum Handball. Am Samstag haben wir ein Spiel. Ich würde gerne mal wieder gewinnen. Dafür sollten wir noch ein bisschen trainieren. Seid ihr bereit?“ Der Trainer blickte durch die Runde, schaute jedem in die Augen.
„Seid ihr bereit?“ Diesmal brüllte Herr Schmitz seine Frage.
„Jaaaaaa!“, brüllten die Spieler zurück.
„So, stellt euch hintereinander an der Mittellinie auf, ihr führt den Ball, spielt mich hier vorne an, ich passe zurück und ihr feuert vom Kreis“, rief der Trainer.
Die Jungs nickten. Vor Jonas standen fünf Spieler. Keiner von ihnen versenkte den Ball in den Maschen, Schicke kratzte die Bälle aus allen Ecken.
„Der kann’s noch“, murmelte Jonas anerkennend. Nun war er an der Reihe. Er prellte den Ball, machte zwei Schritte, spielte den Trainer an, lief schräg nach außen, um eine bessere Wurfposition zu haben und fing den Rückpass. Jonas sprang an der Kreislinie ab und warf. In diesem Wurf steckten über zwei Monate Angst, unzählige Ohrfeigen und jeder Zentimeter zerkratzter Lack. Aber auch die Wut auf David und auf sich selbst und die tonnenschwere Erleichterung, dass sie nicht blind war.
Schicke hatte keine Zeit zu reagieren, da krachte der Ball schon gegen die Latte und donnerte von dort an seinen Hinterkopf. Dann fiel der Torwart einfach um, wie ein gefällter Baum. Er lag bewegungslos auf dem Hallenboden, alle Viere von sich gestreckt.
In der Turnhalle war es schlagartig totenstill. Jonas wurde schwindelig, ihm sackten die Beine weg. Er sank auf den Boden und hielt sich fassungslos die Hände vors Gesicht. Schon wieder! Und dabei hatte er doch nie wieder etwas werfen wollen!
Plötzlich sprang Schicke auf, kugelte sich über Jonas und boxte ihm in die Rippen. „Genau die Würfe haben mir gefehlt“, brüllte er, seine Stimme überschlug sich dabei. „Wurde auch Zeit, dass du wieder da bist, du alter Sack!“
„Alles gut bei dir, Schicke?“, fragte Herr Schmitz, ebenso besorgt wie irritiert.
„Klar doch, ich bin seit diesem Schuljahr in der Schauspiel-AG. Schule ist also doch für irgendwas gut.“
Die Spieler standen um Schicke und Jonas herum und lachten, dass der Hallenboden dröhnte.
Herr Schmitz schüttelte ungläubig den Kopf, pfiff ohrenbetäubend laut in seine Trillerpfeife und hob die Hand. Langsam beruhigten sich die Jungs wieder. „Am Samstag haben wir ein Heimspiel. Du bist doch dabei, Dr. Hammer?“
„Wenn ihr mich lasst?“, antwortete Jonas zögernd.
„Klar lassen wir dich!“, sagte der Trainer. „Auf jetzt“, er klatschte in die Hände, „wir machen zum Abschluss ein Spiel, Schicke und Jim wählen!“
Jim gewann. „Jonas“, sagte er, ohne zu zögern, aber auch ohne ihn anzuschauen. Vor Überraschung blieb Jonas beinahe die Luft weg. Er schwitzte und trippelte ungewohnt nervös von einem Fuß auf den anderen.
Endlich war die Wahl vorbei und die Leibchen übergezogen.
Herr Schmitz wollte gerade das Spiel anpfeifen, als Jonas wild mit den Armen ruderte. „Ich muss noch was sagen!“
„Hat das nicht Zeit bis später?“, fragte Herr Schmitz ungeduldig.
Jonas schüttelte den Kopf.
„Herr im Himmel“, seufzte der Trainer. „Alle noch mal zu mir!“
„Ich möchte mich bei euch bedanken, dass ihr mir wieder eine Chance gebt. Und“, er machte eine Pause, seine Augen suchten den Blickkontakt zu Murat, „ich möchte mich bei Murat bedanken. Ohne dich hätte ich das nicht geschafft.“
Er ging zu Murat und umarmte ihn. Mit Tränen in den Augen sagte Jonas: „Ich wünsche euch allen, dass ihr immer so einen guten Freund wie Murat habt.“
„Ne Oscarverleihung ist ein Dreck dagegen“, lästerte Ron.
Herr Schmitz grinste. „Vielleicht wird die Geschichte ja mal verfilmt. -Lackschäden und andere Schlüsselerlebnisse- das wäre mein Vorschlag für den Filmtitel. Und jetzt jeder auf seine Position!“
Jonas stellte sich auf seine geliebte Rechtsaußenposition, Murat auf die linke. Endlich pfiff der Trainer das Spiel an. Jim führte den Ball und passte ihn nach links zu Murat. Schicke wedelte mit seinen tellergroßen Händen und erwartete den Wurf. Murat zog zwei Verteidiger auf sich und warf einen scharfen Ball diagonal über das Spielfeld. Jonas fing ihn, täuschte rechts an und ging links am Verteidiger vorbei. Kurz vor der Kreislinie sprang er ab.

Jonas flog wieder.

Jonas warf wieder.

Tor!!!

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