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Gehen oder stehen?

In einer Fußgängerampel lebten ein rotes und ein grünes Ampelmännchen. Klaglos funktionierten sie, tagein, tagaus, nachtein, nachtaus. Grün rein, Rot raus, Rot rein, Grün raus.
Und weil das so war, kannten sich das rote und das grüne Ampelmännchen nicht. Wie sollten sie auch? Denn immer, wenn der eine in der Ampel kurz ausruhen konnte, musste der andere draußen Dienst tun.

Bis eines Tages ein verkaterter Baggerfahrer den Dienstplan gehörig durcheinander brachte. Aldis Wodka ist leider, für die nach dessen Konsum breite Masse, doch allzu erschwinglich. Noch leicht zitternde Finger kappten das Stromkabel mit der Baggerschaufel. Der Verkaterte brachte fertig, was der Winter und Putin nicht geschafft haben: Stromausfall.
„Ahhhhhh“, brüllte der Grüne erschrocken.
„Huch?“, entfuhr es dem Roten.
„Huch? Mehr als Huch fällt dir nicht ein? Das ist Hausfriedensbruch! Raus hier, aber zackig!“, rief der Grüne.
„Da ich hier wohne, müssen Sie sich von meinem Grund und Besitz entfernen“, sagte der Rote.
„Babbel nicht so einen geschwollenen Mist. Ich wohne hier. Das ist meine Ampel.“
„Wirre Reden und eine völlig ungesunde, chlorophyll-lastige Farbe! Soll ich den Techniker rufen?“
„Du siehst selbst aus wie eine zermatschte Tomate und nennst meine Farbe ungesund?“
„Rot ist die Farbe des pulsierenden Bluts in den Menschen, die vor der Ampel stehen.“
„Hast du stehen gesagt? Menschen gehen doch! Du tickst nicht ganz richtig. Jetzt hab’ ich’s. Du bist hier neu, bist rot und tickst nicht ganz richtig: Ein Neurotiker.“
„Sehr witzig, lassen Sie mal Luft ab, das tut dem Blutdruck nicht gut.“
„Ich hab’ Spannung, keinen Blutdruck!“, rief der Grüne.
„Ich wollte nur eine Anleihe aus der Menschenwelt nehmen. Bei denen steigt der Blutdruck, wenn sie vor der Ampel stehen.“
„Menschen stehen nicht, sie gehen! Kapier’s doch!“ Die Stimme des Grünen überschlug sich.
„Ich sollte wirklich den Techniker rufen. Ihr Zustand ist beängstigend. Völlig verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit.“ Der Rote schüttelte ungläubig den Kopf.
„Du siehst doch alles durch deine rosarote Brille. Du bist völlig daneben. Menschen gehen!“
„Nein, Menschen stehen. Sehen Sie das endlich ein!“
„Menschen gehen!“
„Menschen stehen!“
„GEHEN!“
„STEHEN!“
„Menschen gehen, wenn ich durch die untere Tür nach außen trete!“, rief der Grüne.
„Sie nehmen doch Drogen. Wenn ich die obere Tür nach draußen nehme, stehen die Menschen bald danach. Flehend schauen sie zu mir auf. Sie stehen!“ Der Rote imitierte den erwartungsvollen Blick. „Und wissen Sie, was mich wundert?“
„Nein, aber ich befürchte, du wirst es mir gleich sagen.“
Der Rote rollte mit den Augen, dann fuhr er fort: „Mich wundert, dass schon längere Zeit kein Dienstimpuls kam.“
„Kein was?“ Der Grüne zog fragend die Augenbrauen nach oben.
„Der Dienstimpuls. Ich erhalte normalerweise sehr regelmäßig einen Dienstimpuls.“
„Einen Dienstimpuls“, äffte der Grüne den Roten nach. „Bist du verbeamtet? Lachhaft. Bei mir ist es ganz anders. Ich betrete eine Bühne! Die Masse jubelt mir zu und setzt sich für mich in Bewegung.“

Stille trat ein, die Ampelmännchen musterten sich.
„Und du wohnst hier in meiner Ampel?“ fragte der Grüne.
„Sie befinden sich in meiner Ampel. Verdrehen Sie nicht permanent die Tatsachen!“
„Und nehmen wir einfach mal an, wir würden beide hier wohnen: Warum haben wir uns nie getroffen?“, fragte der Grüne.
„Hm, interessante Frage“, grübelte der Rote. „Dabei habe ich mich immer schon gefragt, was da draußen passiert, wenn ich drin bin. Und wohin die andere Tür führt.“
„Mir war das völlig egal. Hauptsache, die Masse jubelt mir zu“, sagte der Grüne.
„Ich dachte, die Zeit steht still, wenn ich in der Ampel bin. Aber ich musste die Menschen ja immer erst zum Stillstand bringen, also konnte ohne mich die Zeit nicht stillgestanden haben“, sagte der Rote.
„Mir wird ganz wirr bei deinen komischen Gedanken. Stehen oder gehen die Menschen? Lass uns nachgucken, wer Recht hat!“, schlug der Grüne vor.
Der Rote schaute fragend.
„Ganz einfach, beim nächsten Dienstimpuls, wie du es nennst, gehe ich durch deine Tür, wenn das nächste Flehen der Massen kommt, gehst du durch meine Tür.“
„Okay, abgemacht. Dann werden wir ja sehen, dass ich Recht habe“

Just in dem Augenblick, als der Rote das sagte, war die Reparatur des zerstörten Kabels abgeschlossen, Elektronen schossen wieder durch die Leitung.
„Los, schnell, da ist der Dienstimpuls. Raus mit Ihnen!“ Aufgeregt zeigte der Rote auf die obere Tür. Neugierig rannte der Grüne nach draußen. Unverhofft fand er sich in einem Korsett wieder. Er musste die Arme anlegen, die Beine geschlossen halten, fühlte sich wie in einem Sarkophag, musste stehen, wo doch sein ganzes Leben Gehen ist. Er konnte kaum atmen, und auch was er sah, ließ ihn ungläubig nach Luft schnappen. Die Menschen jubelten ihm nicht zu, sondern zeigten mit offenen Mündern auf ihn. Liefen vor, liefen zurück, blieben mitten auf der Fahrbahn stehen, zogen und schoben andere Passanten, fingen lautstark an zu streiten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erlöste ihn ein elektrischer Impuls, er durfte in der Ampel ausruhen. Wie gerne hätte er jetzt mit dem Roten gesprochen, aber dem erging es draußen auch nicht besser. Der Rote fühlte sich, als hätte man ihn in eine Spreizhose gezwängt. Auch die Arme konnte er nicht wie gewohnt am Körper anlegen, sondern musste sie, für ihn völlig unnatürlich, vom Körper abwinkeln. Fassungslos sah er auf das Durcheinander. Manche gingen, manche standen, die meisten gestikulierten, einige stritten.

Eilmeldung!!! Chaotische Szenen vor der Ampel. Schockierende Farbkonfusion! Oben grün, unten rot. Fußgänger rennen durcheinander wie ein Hühnerhaufen . Ratlose Techniker der Stadtwerke sind überfordert. Erst der Bagger, dann die Ampel, was für ein Sch…tag, murmelt Techniker Günther K. fassungslos. Fehler nicht auslesbar, Reset führt nicht zu Werkseinstellungen. Typisch rot-grünes Chaos, beklagt der CDU-Stadtrat. Stadtpolizist Dietmar W., bekannt als resoluter Knöllchenverteiler, übernimmt die Verkehrsregelung. Aktualisieren Sie unseren Live-Ticker!!!

„Was war das denn? Bei mir war absolutes Chaos, gehen und stehen, völliges Durcheinander. Dabei habe ich mich sogar in dein Stehkorsett gezwängt“, sagte der Grüne.
„Und ich habe Ihre angestrengte Laufpose übernommen, trotzdem war auch bei mir Tohuwabohu“, bestätigte der Rote.
„Wir sind zwar die Ampelmännchen, die Menschen sind heut’ Hampelmännchen“, sagte der Grüne und der Rote nickte zustimmend.
„Das sind doch RGB-LEDs, wo ist bloß der Fehler?“, murmelte Günther K. und starrte ratlos auf die Ampel.
„Psst, seien Sie mal still. Ich höre draußen einen Techniker. Scheinbar hat er die Ampel ausgeschaltet“, sagte der Rote.
Was hat er mit RGB-LED’s gemeint?“, fragte der Grüne.
„Das wird mir gerade klar“, der Rote grinste. „RGB steht für Rot, Grün, Blau. Wobei die wichtigste Farbe zuerst genannt wird.“
„Ich hätte also nicht nur deine verklemmte Pose, sondern auch deine tomatige Farbe annehmen müssen?“, grübelte der Grüne.
„Das scheint die Lösung zu sein. Und ich hätte mich grün färben müssen“, sagte der Rote.
„Dann steht der neue Plan. Wenn der Techniker das nächste Mal die Ampel aktiviert, tauschen wir alles. Tür, Farbe und Haltung“, sagte der Grüne. „Dann werden wir sehen, was der andere sieht.“
„Und wie unterhalten wir uns dann, wer Recht hat? Ob die Hampelmännchen nun gehen oder stehen?“, fragte der Rote. „Einer ist ja immer draußen!“
„Wir treffen uns einfach heute Nacht in der Ampel. Arbeitsverweigerung! Nachts kommt eh keiner vorbei. Das nennt sich KI!“, sagte der Grüne grinsend.
„Ah, Künstliche Intelligenz!“ Der Rote nickte verstehend.
„Nö“, sagte der Grüne vergnügt. „KI wie kein Interesse. Du bist zwar ein komischer Vogel, aber endlich habe ich jemand zum Schwätzen.“

Der Techniker Günther K. scheiterte mit der vollständigen Reparatur der Fußgängerampel. Tagsüber arbeitet sie wieder zuverlässig, jede Nacht schaltet sie sich aber aus unerklärlichen Gründen selbst ab.
Fassungslos berichtet Günther K. dem Amtsarzt: „Ich höre Stimmen aus der Ampel, Herr Doktor. Sie lachen und reden von Hampelmännchen.“

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