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Point of no return

 

Florian steht hinter der Bühne. Sein Herz rast, die schweißnassen Hände umklammern die Griffe eines klapprigen Briefträgerfahrrads. Der Siebzehnjährige steckt in einer schlabberigen Briefträgeruniform, eine gelbe Dienstkappe mit Posthornabzeichen drückt auf seine Ohren und verformt sie zu Segelohren.
Was mach ich hier eigentlich bei diesem bescheuerten Talentwettbewerb? Noch ist ein Startabbruch möglich. Ich könnte einfach nach Hause gehen! Wenn da nur nicht Mia wäre!
„Hübsche Uniform, FFF!“ Jannik aus dem Bio-Leistungskurs mustert ihn spöttisch. „Heute nicht auf Kriegspfad?“
Florian schüttelt nur genervt den Kopf. Er leitet eine Pfadfindergruppe, deshalb nennen ihn seine Mitschüler Florian Fähnlein Fieselschweif, kurz FFF. Pfadfinder sein ist in ihren Augen oberpeinlich und etwas für kleine Kinder.
Er sieht von hinten die fünf Jungs von „Lake Tahoe“ auf der Bühne stehen. Der Sänger wirbelt seine Haare wie einen Propeller durch das Stroboskoplicht und die Mädchen vor der Bühne kreischen.
Die Jungs wissen, was man anzieht, wo man hingeht, welche Sprüche man macht. Aber ein bisschen affig find ich sie schon.
Das Los hat entschieden, dass er direkt nach Lake Tahoe, den haushohen Favoriten, auftreten muss. Den Gewinner des Nachwuchswettbewerbs erwartet ein Wochenende in einem professionellen Tonstudio. Florian will nicht den ersten Platz gewinnen, er will Mia gewinnen. Mia, die Schöne, Mia, die Geheimnisvolle, das Mädchen mit den langen Locken und den grünen Katzenaugen. Einziges Problem: Mia weiß davon nichts.
Begleitet von tosendem Jubel verlässt Lake Tahoe die Bühne. Jay, der Leadgitarrist, kommt breit grinsend auf ihn zu: „Hau rein, FFF! Und bring mir nachher die Fanpost heim!“
Florian steigt auf das gelbe Austrägerfahrrad und schlingert auf die Bühne. Die Zuschauer lachen, manche klatschen, ganz vorne glaubt er Mia zu entdecken. Er springt vom Fahrrad und sucht Schutz hinter dem massigen Schlagzeug. Seine Hände umfassen die glatten Wände der Trommeln, fühlen die vertrauten kalten Metallreifen, die die Felle spannen. Im gleißenden Rampenlicht sieht er nur noch die Silhouetten der Zuschauer.
Shit, jetzt bin ich über den Point of no return rüber, Startabbruch unmöglich. Ich muss hier durch.
Florians Vater hatte vor sieben Jahren auch den Point of no return überschritten. Das Fahrwerk brach während des Rollens auf der Startbahn. Ein Materialermüdungsbruch, wie die Untersuchung des Unglücks ergab. Der Jumbo war dadurch zu langsam zum Starten, aber zu schnell zum Bremsen. Die Boing 747 schob über die Startbahn hinaus und fing Feuer. Sein Vater verbrannte im Cockpit.
Das Publikum wird unruhig, doch Florian beginnt noch immer nicht zu spielen. Er starrt ins Leere und sieht sich als Dreijährigen, im Cockpit auf dem Schoß seines Vaters, die riesige Kapitänsmütze schräg auf dem kleinen Kinderkopf. Vater und Sohn lachen und strecken dem Fotografen den erhobenen Daumen entgegen.
Verdammt, du hättest auch Busfahrer werden können! Dann würden wir jetzt nicht in einem großen Haus wohnen. Aber du wärest noch da und könntest mich hier raushauen!
Das Publikum beginnt zu pfeifen. Florian klammert sich an das Schlagzeug. Darauf hat schon sein Vater gespielt. Solange er sich
erinnern kann, stand es in ihrem Keller. Oft ging sein Vater nach einem Langstreckenflug erst einmal nach unten und trommelte sich den Jetlag aus den müden Knochen. Kurz nach dem Tod seines Vaters begann Florian mit dem Schlagzeugunterricht. Seitdem spielt er täglich, oft zu alten Kassettenaufnahmen, auf denen sein Vater am Schlagzeug zu hören ist. Haut er aufs Schlagzeug, fühlt er sich seinem Vater ganz nah. Trommeln hilft gegen die Wut auf das gebrochene Fahrwerk, manchmal hilft es auch einfach nur beim Weinen.
Jetzt hört er die ersten Buhrufe aus dem Publikum.
OK, ich bin lange über den Point of no return rüber, dann zieh ich die Kiste halt hoch, denkt Florian, atmet schwer aus und beginnt einen schleppenden, schneidend scharfen Rhythmus zu spielen. Die vom Fußpedal getretene Basstrommel verteilt trockene Schläge in die Magengruben der Zuhörer. Florian wird immer schneller, seine Stöcke wirbeln über die Trommeln und Becken. Die Buhrufe sind vergessen, die ganze Halle hüpft und klatscht wie hypnotisiert in seinem Takt. Ein einziger Schlag gegen den Rhythmus lässt die Menge im Sprung erstarren, bis Florian, der den gemeinsamen Herzschlag vorgibt, erneut zum Tanz bittet.
Er wird wieder langsamer und monotoner, fällt in einen Rap-Rhythmus und beginnt dazu einen Text zu singen, der ihm plötzlich gar nicht mehr witzig, sondern nur noch oberpeinlich vorkommt:

„Hallo meine Fans! Ich bin’s, der Postbote,
mein Fahrrad ist das gelbe, nicht das rostrote.
Ich blühe auf, wenn ich den Sack mit Post knote,
bei Durchfall ich versehentlich auf Post kote.
Natürlich war mein Urahne ein Ostgote,
im Hafenbecken sehe ich nur Postboote.
Sonntags ess’ ich gern mit Bo ne Frosttorte.
Doch heut ist Montag, muss jetzt los: Bin Postbote!

Mit dem letzten Schlag auf das Crash-Becken stößt Florian das Mikrofon von sich, schnappt das Fahrrad und flüchtet aus dem Scheinwerferkegel.
Hinter der Bühne angekommen, lässt er das Fahrrad fallen und taumelt gegen die Wand. Die Knie wackeln, der Puls rast. Er sackt immer tiefer und hört das Publikum seinen Rhythmus weiterklatschen. Im Takt brüllen sie: „FFF, FFF“.
Ein Mann mit einer grauen Mähne, der ein wehrloses Kaugummi foltert und von Kopf bis Fuß in Leder gekleidet ist, stürzt auf Florian zu:
„Hör zu, Kleiner, versprich’s mir, schwör’s, Mann: Nie mehr so’n beschissnen Text, nie mehr’n Mikrofon anrühr’n, nie mehr Rapper spielen!“
„Können Sie auch in vollständigen Sätzen reden?“
Die jammernde Gestalt nervt Florian, jetzt hat er sowieso nichts mehr zu verlieren.
„Krass, ham wir hier den Herrn Oberlehrer? Ich sollte dir in den Arsch treten, aber was mach’ ich? Ich geb’ dir noch Tipps!“
Der Ledermann haut sich fassungslos an die Stirn.
„Setz dich hinter deine beschissene Schießbude, trommel weiter, trommel jeden Tag, trommel bis die Felle qualmen. Da is was in dir drin, das kommt beim Trommeln raus, ich spür das. Ich weiß nich, was es ist, aber mach weiter. Das war Hammer. Aber, bitte bitte, nie mehr so’n bescheuerten Fastnachtsauftritt.“
Mit leidendem Gesichtsausdruck und wehenden Haaren zieht er ab.
„Weißt du, wer das war?“ Jay steht plötzlich neben Florian.
„Ne, keine Ahnung.“
„Alter, der ist von Polystar Music Deutschland. Hat er dir einen Plattenvertrag angeboten?“
„Ne, aber ich glaub er zahlt Schweigegeld, wenn ich nicht mehr rappe.“
„Dein Auftritt war abgefahren. Du hast nie erzählt, dass du’n Drummer bist.“
Florian zuckt mit den Schultern.
„Ich weiß nicht, ob du’s schon gehört hast. Toms Vater wechselt den Job, die gehen nach Hamburg. Wir brauchen also’n neuen Drummer. Denk mal drüber nach!“
Florian nickt. Jetzt aber hat er keine Zeit zum Nachdenken. Neben dem Aufgang zur Bühne steht Mia. Sie schaut zu ihm hinauf. Er hält dem Blick stand. Die Zeit dehnt sich ins Unendliche. Alles außer Mia versinkt im Nebel.
Oh shit, Paps. Schon wieder ein Point of no return. Hilf mir mal da oben, dass das hier unten keine Bruchlandung gibt.
Er geht auf Mia zu.

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3 thoughts on “Point of no return

  1. Annette Friedemann

    Hallo, eine sehr bewegende Geschichte mit viel Tiefgang und Botschaften. Man konnte sich sehr gut in Florian hinein- versetzen, seine Ängste, Gefühle, Erinnerungen und Hoffnung. Es ist eine Geschichte zum Mut machen, sich einfach mal etwas trauen, eine Geschichte für Menschen, die auch anders sein dürfen. Ich glaube viele Menschen können sich mit dieser Geschichte identifizieren, denn sie berührt ohne kitschig zu sein. Ich freue mich auf mehr, Annette

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