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Der, die, das Nikolaus

Ben liegt in seinem Bett. Das Fußballtraining steckt ihm in den Knochen, müde und zufrieden kuschelt er sich in seine Decke. Sein Team hat das Trainingsspiel 9:8 gewonnen. Und er hat mit einem sensationellen Seitfallzieher den Siegtreffer direkt mit dem Schlusspfiff geschossen!
„Papa, liest du in den Fußballgeschichten weiter?“, fragt Ben. Abends lässt er sich gerne vorlesen, auch wenn er jetzt schon lange selbst lesen kann.
„Das Fußballbuch muss einen Tag warten“, sagt Herr Funke.
„Was?“ Ben schaut ungläubig. „Keine Fußballgeschichte? Ausgerechnet nach meinem genialen Tor. Wieso nicht?“
„Heute lese ich die Geschichte vom Heiligen Nikolaus. Weil morgen Nikolaustag ist.“
Wie zum Beweis hält Herr Funke ein Bilderbuch hoch.
„Ach ne, das doofe Kindergartenbuch. Das kenne ich noch vom letzten Jahr. Und vom Jahr davor.“
„Keine Widerrede, genau das lese ich jetzt.“
Ben ist klar, dass die Fußballgeschichte wirklich auf morgen warten muss. Er stellt die Ohren auf Durchzug und taucht zur Sicherheit unter das Kopfkissen. Trotzdem hört Ben dumpf, dass Nikolaus als Junge sehr reich war, obwohl seine Eltern früh gestorben sind. Als wäre er in der Badewanne unter Wasser, hört er seinen Vater weiterlesen:

„Das Jammern schmerzte Nikolaus,
er wusste, das im Nachbarhaus
verstohlen schon vor manchem Jahr
die Armut eingezogen war.“

Bens Kopf kommt wieder zum Vorschein.
„Komisch, neben uns sind letztes Jahr die Niedermaiers eingezogen, nicht die Armut.“
„Wenn hier etwas eine Armut war, dann dein Witz!“
Herr Funke zieht die Augenbrauen hoch und fährt fort:

„Er kannte die drei Schwestern gut,
die dort in ihres Vaters Hut
zusammen lebten, fromm und rein,
den Mädchen soll geholfen sein.“

Schlagartig sitzt Ben in seinem Bett.
„Stopp, stopp, stopp. Die drei Schwestern lebten im Hut von ihrem Vater?“
„Willst du mich veräppeln?“, fragt Herr Funke leicht säuerlich.
„Nein, höchstens verbirnen. Jetzt im Ernst. Die können doch nicht im Hut leben.“
„Sie lebten in ihres Vaters Hut. Das heißt, dass sie in seiner Obhut lebten und er sie behütet hat“, erklärt Herr Funke.
„Und warum steht es dann da nicht so?“ Ben schüttelt den Kopf.
„Und dann geht der Krampf ja noch weiter. Den Mädchen soll geholfen sein, hast du vorgelesen. Ein Mädchen ist weiblich, also müsste es heißen die Mädchen! Man sagt aber das Mädchen. Als wäre es eine Sache. Sind es aber drei Schwestern, heißt es plötzlich die Mädchen, und jetzt liest du was von den Mädchen. Und dann gibt es noch den Vater der Mädchen.“
„Ich habe das nicht erfunden, aber dafür gibt es grammatikalische Regeln“, sagt Herr Funke.
„Regel Nr. 1 scheint zu heißen: Keiner soll richtig Deutsch lernen. Hat man endlich alle Der-Die-Dasse auswendig gelernt, wird der Turbo gezündet: Das Mädchen spielt. Die Mädchen spielen mit dem Ball der Mädchen. Gib den Ball dem Mädchen hier oder den Mädchen dort. Ja, seid ihr denn total verrückt?“ Ben sinkt stöhnend wie der gefoulte Neymar auf sein Bett nieder.
„Mhm, gute Frage. Und ich könnte dir noch nicht mal genau erklären, warum das so ist.“ Herr Funke stützt das Kinn auf und grübelt.
„Ich hab’s!“, ruft Ben in die Stille. „Man entscheidet sich einfach für der oder die oder das und dabei bleibt es.“
„Wie meinst du das?“, fragt Herr Funke.
„Ganz einfach, das geht so: Das Nikolaus bringt das Mädchen das Geschenke. Er packt das Geschenke aus das Sack und gibt sie das Mädchen. Das Mädchen sagt das Nikolaus danke. Das Nikolaus nimmt das Sack, steigt auf das Schlitten und fährt weiter zu das anderen Kinder. Siehst du Papa, geht doch viel einfacher!“
„Findest du? Ich weiß nicht, ob deine Der-Die-Dasse einfacher und besser sind, Ben!“
„Weiß ich auch nicht. Aber einfach besser wäre es, jetzt noch ein bisschen aus dem Fußballbuch zu lesen.“
Herr Funke schüttelt den Kopf: „Besser wäre es, jetzt weiter im Nikolausbuch zu lesen. Sonst weiß ich nicht, ob das Nikolaus morgen was auf das Teller von das Ben legt.“
„Dann soll das Papa von das Ben lieber weiter aus das Buch von das Nikolaus vorlesen!“, sagt Ben schnell, vergräbt sich wieder unter seinem Kopfkissen und träumt von seinem Seitfallzieher.

(Kursive Textstellen zitiert aus:
Ingrid Uebe:  „Die Geschichte von Sankt Nikolaus“, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2006)

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2 thoughts on “Der, die, das Nikolaus

  1. Jutta Baumann

    Die Geschichten auf dieser Seite sind sehr gelungen! Vielen Dank fürs Veröffentlichen! Diese hier ist meine Liebelingsstory. Es wäre schön, wenn es bald auch ein Buch mit diesen Geschichten gäbe. Seiten zum Umblättern sind auch was Tolles.
    Ich wünsche viel Erfolg!

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